„Remigration“: Polizeieinsatz beendet „Lesung“ von Martin Sellner

Die Tour von Martin Sellner war groß beworben: In mehreren bundesdeutschen Städten wollte er aus seinen Büchern vorlesen. Für Baden-Württemberg hatte er sich als zentralen Ort Pforzheim ausgesucht. Über die Gründe dieser Orientierung können wir nur spekulieren. Ein Zusammenhang mit der Stärke der „Rechten“ ist wahrscheinlich. Bei der Gemeinderatswahl zog die AfD als stärkste Fraktion in das neugewählte Gremium der Stadt Pforzheim ein.

Wer ist Martin Sellner?

In einer Presseveröffentlichung von BIG Business Crime (April 2024) heißt es über ihn:

Martin Sellner gehört zu den ständigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die vom Institut für Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks … herausgegeben wird. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der Idenditären Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-M itgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen Masterplan zur „Remigration“ von Flüchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewandertern vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte* vorgelegt.

(*Anmerkung des Verfassers: „Regime-Change von Rechts – eine strategische Skizze“)

Sellner hat eine tiefbraune Vergangenheit, die z.B. zu einem Einreiseverbot in Großbritannien führte. In „Wikipedia“ ist zu lesen (abgerufen am 28.08.2024):

Einreiseverbote

Im Jahr 2018 verweigerten ihm britische Behörden mehrfach die Einreise nach Großbritannien und verwiesen ihn des Landes; im Juni 2019 verhängte das britische Innenministerium schließlich zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein unbefristetes Einreiseverbot gegen Sellner. Nachdem Sellner eine Spende des Christchurch-Attentäters Brenton Tarrent angenommen hatte, verhängten die Verienigten Staaten im März 2019 ein Einreiseverbot gegen ihn und entzogen ihm sein Langzeitvisum. Im März 2024 erhielt Sellner nach einem Entscheid der Stadt Potsdam ein Einreiseverbot nach Deutschland. Der Entscheid erging unter Verweis auf § 6 Abs. 1 FreizügG/EU „aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“. Dem Einreiseverbot vorausgegangen waren deutschlandweite Proteste gegen Rechtsextremismus, die sich auf einen in Potsdam gehaltenen Vortrag Sellners zur Remigration bezogen. Infolge eines Eilantrag Sellners gegen dieses Einreiseverbot wurde dessen Vollzug von der Stadt Potsdam im April 2024 ausgesetzt. Das Verwaltungsgericht Potsdam gab dem Eilantrag Ende Mai 2024 mit aufschiebender Wirkung statt; das Einreiseverbot darf somit vorerst nicht vollzogen werden. Laut Gericht erfüllte die Begründung der Stadt Potsdam für das Verbot nicht die „tatbestandlichen Voraussetzungen“ für einen solchen schwerwiegenden Eingriff. Die Verfügung sei nach der im Eilverfahren möglichen Prüfung erwiesen rechtswidrig.

Die Initiative gegen Rechts mobilisierte gegen die für den 3. August im Raum Pforzheim angekündigte Lesung mit einem breiten Bündnis gegen diese Lesung, ohne den genauen Ort dieser Lesung zu kennen. Vor dem Rathaus in Pforzheim wurden kurzfristig am Samstagabend 150 Menschen mobilisiert (laut Polizeiangaben 70). OB Peter Boch und Bürgermeister Dirk Büscher nahmen als Privatpersonen an dieser Kundgebung teil. Es stellte sich heraus, dass Sellner seine Lesung in Neulingen-Göbrichen (Enzkreis) halten wollte. Der dortige Bürgermeister erließ gegen die Lesung in einer renommierten Gaststätte eine Polizeiverfügung, aufgrund derer die Polizei den Veranstaltungsraum räumen ließ.

Quelle: Antifa Nachrichten Nr. 4/2024, Magazin der VVN-BdA Landesvereinigung Baden-Württemberg

Serco und das Geschäft mit dem Elend Geflüchteter

Aktuelle Recherchen von Süddeutscher Zeitung und dem ARD-Magazin Monitor zeigen einmal mehr: Die Privatisierung von Betreuungsleistungen für geflüchtete Menschen stellt einen Anschlag auf die Menschenwürde der Betroffenen dar. Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) hatte die Verträge für drei Unterkünfte mit der Firma ORS („Organisation für Regie- und Spezialaufträge“, Sitz in Zürich) kurzfristig und außerordentlich zu Ende März 2024 gekündigt. Der Grund lag offenbar in einem Todesfall, der sich in einer von ORS betriebenen Einrichtung in Berlin-Steglitz ereignet hatte. Die Leiche eines 24-jährigen aus Guinea stammenden Mannes war wochenlang unentdeckt geblieben und erst im November des letzten Jahres aufgefunden worden. Monitor berichtete, dass die Unterbringungskosten für den Mann sogar noch abgerechnet worden seien, als dieser bereits verstorben war. Niemandem war sein Tod aufgefallen – auch den ORS-Mitarbeitern nicht. Dieser Fall wirft nicht nur ein Schlaglicht auf das Geschäftsmodell des Betreibers der Unterkunft, sondern auch auf die skandalösen Folgen, die sich unvermeidlich ergeben, wenn Staaten die Betreuung und Versorgung von Geflüchteten an private Anbieter auslagern, geflüchtete Menschen also zur reinen Profitquelle werden.

Auch wenn staatliche bzw. gemeinnützige Einrichtungen nicht per se einen humanen Umgang mit Geflüchteten garantieren können (und wollen) – für private Firmen gibt es schlicht keine Anreize, Geld für soziale Leistungen auszugeben. So legt nach Aussage von ORS der Betreibervertrag lediglich fest, dass ORS zwar eine Unterkunft, aber keine Betreuung anbieten muss. Die Berliner Stadtmission, zuvor Betreiber der Unterkunft, hatte dagegen in das soziale Zusammenleben der Menschen investiert (Betreuung von Kindern und traumatisierten Bewohnern durch qualifizierte Sozialarbeiter, Freizeitangebote, Hilfe bei Behördengängen usw.).

Gemessen an dem Bedarf an sozialer Arbeit galt der Standort unter der Leitung von ORS denn auch als personell unterbesetzt. Offenbar, so die SZ, setzte ORS an mehreren Unterkünften in Deutschland so wenig Personal ein, dass die staatlichen Auftraggeber wegen nicht erfüllter Vertragspflichten hohe Summen von den vereinbarten Zahlungen abzogen. Allein die Städte Karlsruhe und Tübingen verhängten demnach insgesamt 35 Vertragsstrafen wegen nicht erfüllter Personalschlüssel. Die Mitarbeiter des Betreibers beklagten sich zudem über die für sie selbst geltenden prekären Bedingungen (Löhne unter Tarif, befristete Verträge).

ORS ist eine Tochtergesellschaft der börsennotierten britischen Serco Group, die nach eigenen Angaben weltweit über fünf Milliarden Euro Umsatz macht: als Dienstleister für Militär und Grenzschutzbehörden, für das Bildungs- und Verkehrswesen, aber eben auch als Betreiber von Gefängnissen und Flüchtlingsunterkünften. In über 20 Ländern aktiv hat sich Serco laut einer australischen Menschenrechtsanwältin zu einem „Schlüsselakteur in der globalen Flüchtlingsindustrie“ (SZ) entwickelt. Vor allem in Australien zählen die Regelungen für Einwanderer und Flüchtlinge zu den weltweit härtesten. Das Land ist berüchtigt für die „Immigration Detention Centres“, jenen Haftanstalten, in denen Asylsuchende und andere Menschen ohne Visa festgehalten werden. Hier in „Down Under“ ist die Kritik an Serco denn auch besonders laut. Für einen ehemaligen Insassen einer von Serco geführten Haftanstalt für Einwanderer ähneln die Einrichtungen einem Hochsicherheitsgefängnis: „Hohe Zäune, Toiletten aus Stahl und festgeschraubte Möbel. Insassen dürften ihnen zugeteilte Bereiche nur zu bestimmten Zeiten verlassen, um auf dem weiteren Gelände zu spazieren. Wer auffällt, könne übergangsweise in videoüberwachte Einzelzellen verlegt werden. Kritiker sprechen von Isolationshaft“. (SZ)

Die zunehmende Bedeutung Sercos wird auch am Beispiel Großbritanniens deutlich. Hier ist der Konzern einer der größten privaten Dienstleister für die öffentliche Hand und hat viele outgesourcte Aufgaben übernommen. Darum gäbe es Leute, so ein britischer Politikwissenschaftler, die meinten, dass Serco heimlich das Land regiere (vgl. SZ).

Seit Ende des letzten Jahres gehört auch der größte deutsche private Betreiber von Flüchtlingsunterkünften, European Homecare (EHC) aus Essen, zum Konzern. Mit nun rund 130 Unterkünften ist Serco damit der wichtigste private Anbieter in Deutschland und verantwortlich für die Unterbringung von etwa 55.000 Geflüchteten. Nach Angaben von SZ und Monitor vergibt Berlin bis Ende 2024 Aufträge ausschließlich an die kostengünstigsten Anbieter, so dass mit einem weiteren Anstieg des Marktanteils von Serco in Deutschland in diesem Sektor zu rechnen ist – zum Nachteil der Geflüchteten und der Mitarbeitenden.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Elif Eralp, hält Serco deshalb für ein skrupelloses Unternehmen, „das Sprengköpfe fertigt und Waffen in die ganze Welt verschickt“ (Neues Deutschland). Es könne nicht sein, so Eralp gegenüber der Zeitung, dass ein Rüstungskonzern mit dem Betrieb von Unterkünften für Geflüchtete Geld verdiene, während seine Waffen in ebenjenen Konflikten eingesetzt würden, die Menschen zu Flucht zwängen.

Die Zustände in den privat geleiteten Unterkünften zeigen, wie es um die Bereitschaft der Gesellschaft und des Staates bestellt ist, Flüchtende aufzunehmen und human unterzubringen – oder sie davon abzuschrecken, überhaupt in Erwägung zu ziehen, nach Deutschland kommen zu wollen. Den Tod des jungen Mannes aus Guinea als „bitteres Resultat eines systematischen Versagens“ zu bezeichnen, wie in der Anmoderation des Monitor-Beitrags zu hören, trifft deshalb das Problem nicht. Zuzustimmen ist dagegen Osman Oğuz vom Sächsischen Flüchtlingsrat, der Anfang des Jahres gegenüber der Leipziger Zeitung feststellte:

„Was in diesem weit verzweigten Geschäft ‚gemanagt‘ und mit dem Ziel billigster Effizienz umgesetzt wird, entspricht vielen faschistischen Träumen von Internierung, Vertreibung und Ausbeutung. Ganz im Sinne des Zeitgeistes: nach der Logik eines neoliberalen, transnationalen Unternehmens.“

Quellen:

Yaro Allisat: „Milliardengewinne mit Migration und Krieg: Serco übernimmt Geflüchteten-Unterkünfte auch in Leipzig“, Leipziger Zeitung (Online) vom 16. Februar 2024

https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2024/02/milliardengewinne-mit-migration-und-krieg-serco-gefluchteten-unterkunfte-leipzig-577388

Kristiana Ludwig/Till Uebelacker/Lina Verschwele: „Die Firma für Rüstung und Soziales“, Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2024

Uta Schleiermacher: „Geschäfte mit dem Krieg“, taz (Online) vom 10. Juli 2024

https://taz.de/Fluechtlingsunterkuenfte-in-Berlin/!6019625/

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Zweifelhafter Profit mit Flüchtlingen“, tagesschau.de vom 29. August 2024

https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/fluechtlinge-unterbringung-unternehmen-100.html

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften“, Monitor (ARD) vom 29. August 2024

https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/unterversorgt-geschaefte-mit-fluechtlingsunterkuenften-102.html

Patrick Volknant: „Rüstungskonzern profitiert von Geflüchtetenunterkünften in Berlin“, Neues Deutschland (Online) vom 18. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181591.asylpolitik-ruestungskonzern-profitiert-von-gefluechtetenunterkuenften-in-berlin.html

 

 

 

Staatsanwaltschaften am Gängelband der Politik?

Erzeugen soziale Bewegungen nicht genügend Druck auf der Straße, wenden sie sich an die Gerichte, um dort etwas zu bewirken. So oder so ähnlich lautet ein alter Sinnspruch aus der linken Szene. Anne Brorhilker, Kölner Oberstaatsanwältin in Sachen Cum-Ex, geht den umgekehrten Weg. Sie quittierte den Staatsdienst, um sich im Verein Bürgerbewegung Finanzwende zivilgesellschaftlich gegen Wirtschaftsverbrechen zu engagieren. Offensichtlich fühlte sie sich bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität von den Behörden nicht ausreichend unterstützt oder sogar behindert.

Mehrere Presseberichte problematisierten deshalb jüngst die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland, weil, so das Handelsblatt, „besonders forsche Ermittler jederzeit aus dem Justizministerium zurückgepfiffen werden“ können. In den meisten Kommentaren zu Brorhilkers öffentlich vollzogenen Rückzug überwiegt die Auffassung, das ministerielle Weisungsrecht gehöre schlicht abgeschafft. Diese Forderung wird seit Jahrzehnten immer wieder erhoben, ist also längst ein rechtspolitischer Dauerbrenner. So insistierte die Neue Richtervereinigung (NRV) am 23. April 2024 nicht zum ersten Mal auf der völligen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften. Vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme auf die Justiz in Polen und Ungarn hielt es im letzten Jahr auch der Deutsche Richterbund (DRB) für „höchste Zeit, die Möglichkeit einer Einflussnahme der Politik auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft abzuschaffen“. So drückte es jedenfalls Geschäftsführer Sven Rebehn gegenüber der Berliner Morgenpost aus.

Ähnlich positionierte sich Anfang des Jahres Berlins Generalstaatsanwältin Margarete Koppers. Denn der Europäische Gerichtshof verlange schon seit langem die Abschaffung des Weisungsrechts. In vielen europäischen Ländern gebe es denn auch kein Durchgriffsrecht auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften. Mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte der AfD bei Umfragen in einigen Bundesländern verwies Koppers darauf, dass auch AfD-Politiker*innen das Amt des Justizministers besetzen könnten: „…dann möchte ich mir nicht vorstellen, wie die Strafverfolgung aussähe – vor allem im Bereich des Rechtsextremismus“.

Nach Auffassung von Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) ist es höchste Zeit für eine „Entfesselung der Justiz“. Er hält es für „eigentlich pervers“ und einen unerträglichen Zustand, dass die Politik der Staatsanwaltschaft jederzeit die Zügel anlegen könne. Das geschehe zwar eher selten, aber es komme ja gerade auf die „heiklen Verfahren“ an. Die politische Weisungsabhängigkeit sei darum ein Geburtsfehler der deutschen Staatsanwaltschaft, nötig dagegen die Selbstverwaltung für die gesamte Justiz.

Spricht aber dieser vielfach vorgetragene Furor gegen den Status der Staatsanwaltschaft als weisungsgebundene Behörde wirklich für eine Fehlkonstruktion in der deutschen Justiz?

Die Regeln des Weisungsrechts

Anweisungen des Ministeriums in konkreten Verfahren einer Staatsanwaltschaft sind in der Praxis tatsächlich sehr selten, da sie rechtpolitisch als äußerst umstritten gelten und medial regelmäßig skandalisiert werden. In § 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) heißt es allerdings so lapidar wie eindeutig, dass die Beamten der Staatsanwaltschaft „den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen“ haben. Mit Letzteren sind auch die zuständigen Justizminister gemeint. Auch diese können sich also im konkreten Einzelfall in die Arbeit der Staatsanwälte einmischen. Anders als Richter, deren Unabhängigkeit nach Art. 97 GG verfassungsrechtlich garantiert ist, sind die Staatsanwälte dem Justizressort zugeordnet und gelten als „verlängerter Arm“ der Behörde. „Sprich: Wer regiert, kann die Geschicke der Staatsanwaltschaft bestimmen.“ (Cicero vom 22. Februar 2024) Da eine gesetzliche Beschränkung fehlt, können sich Weisungen tatsächlich auf jede staatsanwaltschaftliche Aufgabe beziehen und zu jedem Zeitpunkt erfolgen. Zu beachten ist dabei jedoch von den „Vorgesetzten“ das Legalitätsprinzip, welches die Staatsanwaltschaften verpflichtet, alle Straftaten bei einem ausreichenden Anfangsverdacht zu verfolgen (§152 Abs. 2 StPO).

Verzichtet das Ministerium auf eindeutige Weisungen, bedeutet das aber nicht, dass eine politische Steuerung unterbleibt. Denn die erfolgt nur in Ausnahmefällen so auffällig und öffentlichkeitswirksam wie bei dem grünen Justizminister in NRW Benjamin Limbach, der den Einfluss von Anne Brorhilker bei den Ermittlungen gegen Cum-Ex-Verbrechen schwächen wollte. „Ein Anruf des Ministers beim ermittelnden Staatsanwalt ist eher selten. So plump wird Macht im modernen Staat kaum ausgeübt. Das Mittel der Wahl ist die subtile Kommunikation von Erwartungen.“ (Cicero, 02/2024, Seite 42)

Der Zugriff auf die Staatsanwälte erfolgt eher über Empfehlungen und Anregungen, auch über deren Verpflichtung, der übergeordneten Behörde „zu berichten“ (über erzielte Ergebnisse in der Ermittlungsarbeit und weitere Absichten). Kritische Stimmen sehen daher schon in der Möglichkeit einer direkten politischen Einflussnahme ein entscheidendes Problem: Denn es ist zu vermuten, dass manche Staatsanwälte das von Ministerium erwünschte Verhalten vorwegnehmen und sich entsprechend selbst disziplinieren.

Was spricht für die Beibehaltung des Weisungsrechts?

Staatsanwälte aber als reine Handlanger der Politik darzustellen, übersieht deren Entscheidungsfreiheiten, die sich aus ihren Aufgaben ergeben. „Sie haben ein Monopol darauf, Straffälle vor Gericht zu bringen“, schreibt Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung. „Was für eine Macht! Richterinnen und Richter bleibt ‚nur‘, deren Anklagen zu kontrollieren. Kriminalpolitik ist etwas, das in einer Demokratie wählbar sein muss – und abwählbar. Deshalb hat es nie so richtig eingeleuchtet, weshalb die Staatsanwaltschaften, die in Deutschland eine solche Schlüsselrolle spielen, nach mehr ‚Unabhängigkeit‘ vom demokratischen Souverän verlangen – das heißt konkret: dass sie keine Weisungen mehr von den Justizministerien annehmen wollen.“

Ohne ein Weisungsrecht, bestätigt auch die Strafrechtlerin Jannika Thomas, würde die Staatsanwaltschaft der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Die Unabhängigkeit und damit die fehlende parlamentarische Kontrolle richterlichen Handelns etwa sei nur mit Blick auf die besondere institutionelle Stellung der Judikative hinzunehmen. Gerichte unterlägen aufgrund der öffentlichen Hauptverhandlung einer unmittelbaren Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Hingegen fänden die staatsanwaltlichen Ermittlungen im Geheimen statt. „Gerade deshalb sollte das Privileg der Unabhängigkeit nicht ohne Weiteres auf Behörden wie die Staatsanwaltschaft ausgeweitet werden. Eine unabhängige Staatsanwaltschaft würde, sofern nicht besondere Instrumente zu ihrer parlamentarischen Kontrolle geschaffen werden würden, zu einem gewissen Grad auch eine unkontrollierbare Staatsanwaltschaft bedeuten.“

Die Cum-Ex-Deals zeigen ohne Zweifel, wie „die Politik“ durch aktive Behinderung staatsanwaltlicher Ermittlungen ihren Unwillen zeigt, Finanzkriminalität konsequent zu bekämpfen. Was die Abhängigkeit des Apparats der Staatsanwaltschaften vom jeweils vorherrschenden politischen Regierungswillen illustriert. Aber der kann auch emanzipatorischen Charakter annehmen. So machte der Rechtsanwalt Gerhard Strate vor zehn Jahren auf die Ambivalenz der Weisungsabhängigkeit am Beispiel eines der größten Justizskandale in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik aufmerksam. Über sieben Jahre saß der Ingenieur Gustl Mollath auf richterliche Anweisung unschuldig in der Psychiatrie. Der Fall wurde bundesweit zum Politikum. Strate stellte in einem Fachbeitrag fest, dass ein vom Bayerischen Landtag eingesetzter Untersuchungsausschuss „eine Kette unsäglicher Versäumnisse von Strafverfolgungsbehörden in Bayern“ zu Tage förderte. Mollath wurde letztlich freigesprochen und erhielt eine Entschädigung für seine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie. Laut Strate war eine solche Untersuchung nur möglich, weil die zuständige Justizministerin für die Fehler zur Verantwortung gezogen werden konnte. „Was hätte“, so Strate, „stattdessen ein ‚unabhängiges’ Aufsichtskollegium von Richtern und Staatsanwälten bewirkt? Mit Sicherheit: nichts.“ Dem Recht der Justizminister, Einfluss auf Ermittlungen zu nehmen, entspricht ihre Verantwortung gegenüber dem Parlament für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft (was sich auch in der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zeigen kann).

Um eine demokratische, öffentliche Kontrolle der ministeriellen Weisungen an Staatsanwaltschaften zu erleichtern, so zumindest die offizielle Begründung, legte das Bundesjustizministerium Anfang Mai einen Referentenentwurf eines Gesetzes vor, der das Weisungsrecht neu regeln soll. Die „Transparenz von Weisungen gegenüber der Staatsanwaltschaft“ soll erhöht werden. Unter anderem muss den Adressierten überhaupt klar sein, dass eine Weisung erteilt wird (sie soll deshalb schriftlich erfolgen und begründet werden). Zusätzlich sollen zukünftig die bereits bestehenden Grenzen der Weisungsbefugnis nachlesbar im Gesetz stehen. – Alles in allem eine sehr verhaltene Reform, die die kritischen Stimmen kaum verstummen lässt.

Fazit: In der Öffentlichkeit verhandelte Fälle wie Cum-Ex lassen die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der derzeitigen Rechtslage, das heißt einer Abschaffung von Weisungen der Politik, verständlich erscheinen. Es sollte aber auch ehrlich zugegeben werden, dass es der eigene politische Standpunkt ist, der gegebenenfalls die Weisungsbefugnis des Ministeriums zur Zielscheibe der Kritik werden lässt. Ein der AfD nahestehender und mit Weisungsbefugnis ausgestatteter Minister erzeugt bei den meisten Menschen berechtigte Ängste. Ein unabhängiger, das heißt von politischen Weisungen befreiter Staatsanwalt mit politisch rechter Neigung oder mit fehlendem Unrechtsbewusstsein in Sachen Wirtschaftskriminalität verspricht jedoch ebenfalls nichts Gutes.

Und noch ein Nachsatz zu Cum-Ex: Eine unabhängige Richterschaft hat – obwohl die illegalen Geschäfte seit Anfang der 1990er Jahre bekannt sind – noch im Jahr 1999 mit einem Gerichtsurteil (Bundesfinanzhof) die Argumentation gestärkt, mehrfache Steuererstattungen bei Leerverkäufen seien ganz legal. – Mit Recht wird immer Politik gemacht. Ein „entfesselter“ (Prantl) Justizapparat bzw. die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften garantiert aber nicht, dass diese in jedem Fall emanzipatorisch ausfällt.

Quellen:

Volker Boehme-Nessler: „Strafverfolgung nach politischem Gusto?“, Cicero, 02/2024, Seite 41-44

„Der Verlust von Oberstaatsanwältin Brorhilker offenbart Defizite in der deutschen Strafverfolgung und Justizstruktur“, Pressemitteilung der Neuen Richtervereinigung (NRV) vom 23. April 2024
https://www.neuerichter.de/wp-content/uploads/2024/04/2024_04_23-NRV-PM-Verlust-Brorhilker-Defizite-in-Strafverfolgung-und-Justiz-1.pdf

Jan Dörner/Christian Unger: „Deutsche Richter fürchten politischen Einfluss auf Justiz“, Berliner Morgenpost (Online) vom 25. Februar 2023
https://www.morgenpost.de/politik/article237745281/justiz-unabhaengigkeit-richter-deutschland.html

Gudula Geuther, „Diskussion um Weisungen an Staatsanwälte“, Deutschlandfunk, 3. Mai 2024
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-gespraech-diskussion-um-weisungen-an-staatsanwaelte-dlf-f3c63551-100.html
Jessica Hamed: „Die abhängige Justiz“, Cicero vom 22. Februar 2024
https://www.cicero.de/innenpolitik/weisungsrecht-der-justizminister-die-abhangige-justiz

„Koppers fordert Abschaffung des Weisungsrechts durch Justizminister“, rb24 vom 3. Januar 2024
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/01/justiz-staatsanwaltschaft-justizminister-weisungsrecht-margarete-koppers.html

Heribert Prantl: „Staatsanwaltschaft in Deutschland: Ungute Abhängigkeiten“, youtube-Video der Süddeutschen Zeitung
https://www.youtube.com/watch?v=yp1FsxKT6nw

Ronen Steinke: „Kontrolle muss sein“, Süddeutsche Zeitung vom 3. Mai 2024

Gerhard Strate: „Strafverteidigung in unserer Zeit“, netzpolitik.org, 28. April 2014 https://netzpolitik.org/2014/gastbeitrag-von-gerhard-strate-strafverteidigung-in-unserer-zeit/

Jannika Thomas: „Die deutsche Staatsanwaltschaft – ‚objektivste Behörde der Welt‘ oder doch nur ein Handlanger der Politik?“, KriPoZ 2/2020, Seite 84-90
https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/03/thomas-die-deutsche-staatsanwaltschaft-objektivste-behoerde-der-welt-oder-nur-handlanger-der-politik.pdf

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die Zermürbungstaktik der Täter geht auf“,
Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Editorial zu BIG Business Crime 2/2024

 In einem inzwischen wieder gelöschten Tweet hat Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD für die Wahl zum europäischen Parlament, Folgendes gepostet: „Natürlich ist Korruption korreliert mit Kultur und Kultur mit Ethnie.“ In verständliches Deutsch übersetzt heißt das, dass bei bestimmten Ethnien Korruption quasi von Natur aus zur Kultur gehöre und deshalb weiter verbreitet sei als bei anderen, beispielsweise unserer eigenen. Klingt überzeugend, wissen wir doch schon, dass es sich in Fragen der Kriminalität generell so verhält. Denken wir nur an die arabischen Clans und all die fremdländischen Mafiosi, die sich in Deutschland tummeln. Da hilft nur eins: Remigration. Dann ist das Problem gelöst.

Zugegeben, das ist eine satirische Zuspitzung, aber anders als mit Überspitzung ist der Argumentation der AfD und ihrer Vertreter schlecht beizukommen. Dabei ist deren Strickmuster recht einfach und immer dasselbe: Es geht darum, alle Fragen und Probleme möglichst in solche der Kultur und der ethnischen Zugehörigkeit zu verwandeln. Dann wird aus dem Interessengegensatz zwischen Oben und Unten, dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital einer zwischen „uns“ und „denen“. Es gilt: „Wir sind das Volk“ – und „die“ eine abgehobene Elite mit globalistischer Agenda, die den Zustrom kulturfremder Wirtschaftsflüchtlinge nicht verhindert, wenn nicht sogar fördert.

„It’s the economy, stupid“ – den Slogan, mit dem Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen gewann, möchte man all denen zurufen, die vor allem Kulturkämpfe führen wollen, statt sich um die realen Sorgen und Nöte der Menschen zu kümmern.

Genau diesen Slogan weist aber Maximilian Krah bezeichnenderweise in seinem letztes Jahr erschienenen Buch „Politik von rechts“ strikt zurück, weil sonst „alles am Ende ein Verteilungskampf zwischen gesellschaftlichen Gruppen“ sei. Für rechte Wirtschaftspolitik gelte vielmehr: „Daß dem Einzelnen materielle Güter zugeordnet sind, zum Gebrauch wie zum Aufbau von Vermögen, ist Teil der natürlichen Ordnung“. Schlecht und schädlich sei nur der „globale Kapitalismus einer kleinen Oligarchie“. Hier fallen dann die Namen der üblichen Verdächtigen: Bill Gates und George Soros.

Redaktion BIG Business Crime

Die Steuertricks der Großkonzerne

Unter diesem Titel berichtete Christine Dankbar am 12. Februar 2024 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Rundschau über eine neue Studie des Wirtschaftsexperten Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Der Titel ist ein Wiedergänger. Gibt man ihn bei Google in die Suchmaske ein, erscheinen etliche Artikel mit gleich oder ähnlich lautenden Überschriften aus den letzten Jahrzehnten. Es hat sich offenbar nicht viel geändert, trotz aller Reformbemühungen in den USA, der Europäischen Union und den Staaten der OECD.

Gerade die internationalen Digitalriesen wie Google schaffen es nach wie vor, sich trotz exorbitanter Umsätze und traumhafter Gewinnmargen weitgehend um Steuerzahlungen zu drücken. Ihre Hauptmethode dabei ist die geschickte Verlagerung von Gewinnen.

Die neue Studie entstand im Auftrag der Linken im Europaparlament. Grundlage für sie waren die Geschäftsberichte dreier Großunternehmen, die in der EU aktiv sind: Booking.com, Microsoft und Alphabet (der Mutterkonzern von Google).

Dabei zeigt das Beispiel von Booking.com in schlagender Weise, dass zur Steuervermeidung nicht einmal mehr eine Steueroase notwendig ist. Der Hauptsitz des Unternehmens, eines der wenigen großen europäischen Digitalkonzerne, sind die Niederlande. Hier arbeiten weniger als die Hälfte der mehr als 10 000 Angestellten des Konzerns – doch der weitaus größte Teil des Gewinns fällt in diesem Land an.

Wie ist das möglich? Booking.com hat in 71 Ländern Tochtergesellschaften, deren Angestellte aber nach geltendem Steuerrecht nur sogenannte Supportdienste leisten, für die sie vom Mutterkonzern entlohnt werden. Der Löwenanteil der Gewinne wird auf diese Weise scheinbar in den Niederlanden generiert. Dort wird er mit einem effektiven Niedrig-Steuersatz von 15 bis 16 Prozent belastet. Danach werden die Gewinne über eine britische Zwischengesellschaft in die US-amerikanische Zentrale transferiert.

„Diese Struktur vermeidet Steuern auf drei Ebenen“, heißt es in der Studie: „Über den hohen Gewinnanteil der Niederlande und den dortigen Steuervorteil, bei der Umsatzsteuer sowie bei der Besteuerung der Gewinnausschüttung.“ Insgesamt habe sich Booking.com auf diese Weise zwischen 2005 und 2022 Steuerzahlungen in Höhe von 3,6 bis 4 Milliarden Euro erspart – oder, wie man auch sagen könnte, als Zusatzgewinn legal ergaunert. (dem Gemeinwesen entwendet)

In Wirklichkeit ist es noch grotesker: Normalerweise müssen Firmen in den Niederlanden 25 Prozent Unternehmenssteuer zahlen. Doch 2010 erfand man zur „Wirtschaftsförderung“ für „innovative Tätigkeiten“ einen reduzierten Steuersatz von 9 Prozent. Diese „Innovation Box Tax“ trägt den passenden Spitznamen „niederländische Sparbüchse“. Der niederländische Staat hat dennoch etwas davon: Wegen seiner hohen Gewinne zahlte Booking.com von 2003 bis 2021 geschätzte mehr als vier Milliarden Euro Steuern. Die entgingen den anderen Staaten, in denen der Konzern Niederlassungen hat.

Auch Microsoft hat seine Methode, Steuern durch Gewinnverschiebungen zu vermeiden. Sie sieht anders aus als bei Booking.com. Microsoft geht in drei Schritten vor. Zunächst werden die immateriellen Vermögenswerte, also beispielsweise die Programmcodes für Softwareprodukte wie Windows in den USA entwickelt. Diese Vermögenswerte werden dann ins Ausland transferiert – in Steuerparadiese wie Irland, Puerto Rico und Singapur. Danach erst werden sie den Tochtergesellschaften in den einzelnen Ländern zur Verfügung und in Rechnung gestellt. So wird ein Großteil der Gewinne steuersparend erwirtschaftet.

Obwohl beispielsweise in Irland bestimmte Steuervermeidungsmodelle mittlerweile kassiert wurden, erfreut sich Microsoft immer noch an den Vorteilen des dortigen Standorts: Laut Geschäftsberichten bezahlte Microsoft in den Jahren 2020/21 etwa drei Milliarden US-Dollar Steuern in Irland, was einer Steuerquote von 7,2 Prozent entspricht. Das ist erheblich geringer als der offizielle Steuersatz von 12,5 Prozent.

Auch Alphabet nutzte die irischen Verhältnisse, hat aber den größten Teil seiner Gewinne wieder in die USA zurücktransferiert. Die Steuerquote des Konzerns sank dennoch weiter ab: Im Jahr 2022 wurden gerade einmal 15,9 Prozent an Steuern gezahlt. Alphabet machte sich dabei eine Kombination von Steuerprivilegien zunutze.

Der Dreh ist bei allen Unterschieden immer der gleiche: Die Gewinne werden dorthin verschoben, wo am wenigsten Steuern anfallen. Digitalkonzernen fällt das begreiflicherweise leichter als Industriefirmen. Sie handeln mit immateriellen Werten und Dienstleistungen, die sich bequemer und unauffälliger transferieren lassen.

In Italien und Frankreich wird mittlerweile in diesen Zusammenhängen ermittelt, in Deutschland jedoch bisher nicht. Nicht umsonst hat ja die Bundesrepublik den Ruf, innerhalb von Europa ein Steuerparadies zu sein. Die neue Studie belegt aber vor allem, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichten und dass Steuerschlupflöcher in der EU demzufolge viel konsequenter geschlossen werden müssen.

„Die Tech-Giganten nutzen alle Tricks, um ihre Milliarden-Profite kleinzurechnen“, kommentiert Martin Schirdewan, Vorsitzender der Linkspartei und Spitzenkandidat bei den Wahlen zum europäischen Parlament, das Ergebnis der Studie. „Es kann doch nicht sein, dass Booking.com weniger Steuern zahlt als ein mittelständisches Unternehmen aus Franken.“ Bisher kann es genau das.

Quellen:

Christine Dankbar: „Neue Studie deckt Steuertricks auf: So drücken sich Großkonzerne vor Abgaben“,
Frankfurter Rundschau (Online) vom 11. Februar 2024
https://www.fr.de/wirtschaft/steuertricks-tech-konzerne-booking-microsoft-alphabet-europa-linke-schirdewan-92826722.html 

„Digitalkonzerne fair besteuern!“, Autor: Christoph Trautvetter, Studie im Auftrag von: Martin Schirde-wan, Mitglied des Europäischen Parlaments und Ko-Vorsitzender der Fraktion The Left im Europäi-schen Parlament, Brüssel, 2024
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2024/02/Digitalkonzerne-fair-besteuern-DIE-LINKE-Copy.pdf 

 

 

 

 

 

 

Die dunkle Seite der Zukunftsstadt: das Projekt „Neom“ in Saudi Arabien  

 Mitten in der Wüste von Saudi-Arabien, im Nordwesten des Königreichs, soll das wohl gigantischste Bauvorhaben der Welt nach und nach Kontur annehmen – „Neom“.* Veranschlagt auf 500 Milliarden Dollar wird es bis 2040, so die Planung, eine Region fast so groß wie Belgien umfassen und neben dem Skiressort Trojena (Ausrichter der Asiatischen Winterspiele 2029), dem Industriestandort Oxagon und der Luxusinsel Sindalah eine Stadt der Superlative als eigentliches Herzstück aufbieten: „The Line“. Konzipiert auf eine Länge von 170 Kilometern und mit gerade einmal 200 Meter Breite beginnt sie am Roten Meer und führt – wie mit dem Lineal gezogen – ins Landesinnere. Zwei gegenüberliegende Reihen von 500 Meter hohen verspiegelten Wolkenkratzern sollen sich künftig horizontal in die Wüste erstrecken. Sollte die futuristische Stadt im Jahr 2040 wirklich fertiggestellt sein, werden dort einmal neun Millionen Menschen leben – auf nur 34 Quadratkilometern, nicht mehr als einem Zehntel der derzeitigen Fläche von München. Das öffentliche Leben spielt sich in der Vorstellung der Planer in der engen, aber begrünten „Schlucht“ zwischen den beiden Hochhausreihen ab. Obwohl das Projekt von vielen Kritikern als reines Fantasieprodukt verhöhnt wurde, sollen im Februar dieses Jahres von der Projektleitung veröffentlichte Luftaufnahmen bereits erste Baufortschritte zeigen.

Warum das alles? Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman stellte das Projekt im Jahr 2017 erstmals vor und versprach im Rahmen seiner „Vision 2030“ nichts weniger, als eine „zivilisatorische Revolution“ auf den Weg zu bringen. Das Leben in „Neom“ solle zu einhundert Prozent klimaneutral sein: mit Solarstrom, Windkraft, und überhaupt den neuesten Technologien, aber ohne motorisierten Individualverkehr. Alle Wege würden zu Fuß (oder aber mit Aufzügen) erledigt. Daneben soll ein unterirdischer Hochgeschwindigkeitszug die gesamte Distanz von „The Line“ in zwanzig Minuten bewältigen. Geplant ist, dass alle für die Bewohner wichtigen Einrichtungen in nur fünf Fußminuten zu erreichen sind.

Mit dieser Idee einer „nachhaltigen“ Stadt will der Prinz offensichtlich zum einen das ramponierte Image seines Landes aufpolieren. Zum anderen gilt es, angesichts langfristig versiegender Ölmilliarden neue Einnahmequellen zu erschließen, vor allem auch mittels erneuerbarer Energien. Damit es aber gelingt, die Wirtschaft in nur wenigen Jahren weitreichend umzubauen und auf High-Tech-Standard zu bringen, müssen weltweit und massiv Investoren und qualifizierte Arbeitskräfte angelockt werden (zum Beispiel als Bewohner von „The Line“). Die geplante Transformation setzt deshalb eine – wenn auch territorial sehr begrenzte – Öffnung des Landes samt gesellschaftlicher Liberalisierung voraus.

Kritische Beobachter nehmen jedoch die Zukunftsträume der vom saudischen Prinzen eingekauften „Neom“-Propagandisten unter Beschuss, die in ihren Promo-Videos von einer naturverbundenen Planstadt als „Sprungbrett des menschlichen Fortschritt“ fantasieren (Frankfurter Rundschau).

Kein ökologisches Vorzeigeprojekt

Dass „Neom“ mit den Prinzipien von Nachhaltigkeit und Klimaneutralität rein gar nichts zu tun hat, stellen Fachleute immer wieder fest. Allein der Bau von „The Line“ verschlingt Unmengen an Beton und Glas. Die dabei anfallenden CO2-Emissionen werden mehr als das Doppelte von dem umfassen, was Deutschland derzeit pro Jahr ausstößt. Das Projekt – so bringt es ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen auf den Punkt – „dürfte in etwa so nachhaltig sein wie eine Skianlage in der Wüste“. (www.md.de)

Massive Verletzung der Menschenrechte

Das Megaprojekt entsteht auch nicht im Niemandsland – wie es die offizielle Sprachregelung weismachen will. Geschätzt 20.000 Menschen aus lokalen Stämmen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Ein lautstarker Kritiker der Zwangsumsiedlung wurde 2020 von saudischen Spezialkräften erschossen, mehrere Todesurteile, erfolgten, drakonische Haftstrafen wurden wegen vermeintlichem Terrorismus erlassen: alles im vergangenen Jahr dokumentiert in einem UN-Report des Hochkommissars für Menschenrechte (vgl. Handelsblatt).

Die Arbeits- und Lebensbedingungen für die auf den Baustellen Arbeitenden sind offensichtlich inakzeptabel. So werden zum Beispiel nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen in den Camps der Arbeitskräfte, die für jeweils 10.000 Menschen ausgelegt sind, Beschäftigte aus Indien und Pakistan zu sechst in kleinen Räumen eingezwängt. Kritische Stimmen halten die Situation vor allem der asiatischen Niedriglöhner für noch problematischer als beim Bau der Fußballstadien zur Weltmeisterschaft in Katar (vgl. Frankfurter Rundschau).

Auch eine Reihe deutscher Unternehmen und Top-Manager mischen bei dem Projekt im autokratisch regierten Wüstenstaat kräftig mit, weil sich dort – wie auch bei vielen anderen Modernisierungsprojekten – viel Geld verdienen lässt.

Deutsche Unternehmen profitieren

So berät Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, von 2017 bis 2018 CEO von „Neom“, seitdem ganz offiziell den saudischen Herrscher und behielt den Posten auch – trotz des grausamen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi. Siemens bewirbt sich um Aufträge für die Konstruktion der Hochgeschwindigkeitsbahn; eine Tochter von Thyssen-Krupp ist am Bau der größten Wasserstofffabrik der Welt in der „Neom“-Region beteiligt. Die bayerische Bauer AG setzt in der ersten Projektphase riesige Betonpfähle in den Sandboden.

Die Firma Volocopter GmbH aus Bruchsal wird Lufttaxis für „The Line“ liefern. Im November 2022 wurde bekanntgegeben, „Neom“ werde mit 175 Millionen Dollar bei dem Start-Up einsteigen (vgl. ingeneur.de). Mitte des letzten Jahres verkündete das Unternehmen, es seien erste erfolgreiche Testflüge eines senkrecht startenden elektrischen Lufttaxis erfolgt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass „Neom“ laut CEO des saudischen Projekts „globaler Beschleuniger und Inkubator von Lösungen für die dringendsten Herausforderungen der Welt“ sei (vgl. Webseite des Unternehmens: https://www.volocopter.com/de/newsroom/volocopter-flug-in-neom/).

Das deutsche Architekturbüro Laboratory for Visionary Architecture (LAVA), das einen Teil von „Neom“ entwirft, antwortete auf die Frage von Journalisten, wie es sicherstelle, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitrage: „Wir bauen kein Gefängnis dort, wir bauen auch kein Gerichtsgebäude (…) dann wäre man da direkt involviert.“ (Deutschlandfunk) Stattdessen entwerfe man Konzepte für Trojena, „Neoms“ geplantes Naherholungsgebiet in den Bergen. In dem Bereich, für das LAVA arbeite, seien keine Menschenrechtsverletzungen bekannt.

Und auch Thyssen-Krupp, Velocopter und Bauer bekräftigen auf Nachfrage: Man bekenne sich zu den Menschenrechten und prüfe, ob sie eingehalten werden. Offensichtlich mit dem Ergebnis, dass bislang keine Konsequenzen für das eigene Engagement zu ziehen sind (ebd.).

Cognitive City: die perfekte Welt der Überwachung

Selbsternannte „Öko-Städte“ werden als „intelligente Städte“ vermarktet. Der Anspruch, eine CO2-freie „Stadt der Zukunft“ zu entwickeln, setzt deshalb voraus, mittels KI-gesteuerter Systeme eine optimierte Infrastruktur bereitzustellen. Dabei reicht es nicht mehr, am Konzept einer sogenannten Smart City festzuhalten. Der neue Leitbegriff lautet „Cognitive City“: „Wurden in aktuellen Smart Cities bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt NEOM 90 Prozent sein“. (Business Insider) Dienstleistungen von der Müllabfuhr über das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten, so heißt es weiter, sollen nach dem Willen der Planer durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Überwachungstechnologie geregelt werden.

Kritischen Beobachtern ist dabei nicht entgangen, dass die Datensammelwut in einem hochtechnologisierten Gebiet auch als Instrument für eine umfassende Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden kann. Vor etwa einem Jahr wurde denn auch darüber spekuliert, ob China den Saudis aufgrund der sich verbessernde Beziehungen zwischen beiden Ländern eine entsprechende erprobte Überwachungstechnologie bereitstellen könnte (ebd.).

Der renommierte Architekturkritiker Deyan Sudjic stellt fest, dass autoritäre Regime ein „tiefverwurzeltes und wohlbegründetes Misstrauen gegenüber konventionellen Städten“ hätten. Denn Städte seien „lästige, unkontrollierbare Orte, die zu Ungehorsam“ neigten (Sudjic, Seite 80). Stattdessen bauten die Machthaber neue Hauptstädte gerne weit weg von Andersdenkenden. Da Mohammed bin Salman jegliche Widerstände gegen seine Version einer Modernisierung des Landes im Keim erstickt, erscheint eine künftige Totalüberwachung des öffentlichen Lebens auch in „Neom“ wahrscheinlich. Die umfangreichen Daten der Bewohner (Bewegungsprofile, Konsumverhalten, biometrische Erkennungszeichen) werden dabei wohl nicht allein im staatlichen Interesse gespeichert und ausgewertet, sondern auch von den Unternehmen und deren Investoren.

Ein neues Recht

Um ausländische Investoren in Scharen anziehen und ihnen Rechtssicherheit in geschäftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bieten zu können, soll für die innovative Region das in Saudi-Arabien geltende und von der Scharia dominierte rigide islamische Recht nicht gelten. Wie die neuen Regeln genau aussehen werden, scheint allerdings noch unklar zu sein – vermutlich aber werden sie wesentlich weniger restriktiv als im Rest des Landes ausfallen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian interpretiert „Neom“ als ein „Laboratorium für Experimente mit dem privaten Regieren“. Die Zone solle nicht vom saudischen Staat, sondern von ihren Aktionären betrieben werden, von einer autonomen Regierung, deren Gesetze von den Investoren in einem Statut festgelegt würden. Die Anteilsscheine sollen an der Börse in Riad gehandelt werden. Die einzige Pflicht der Direktoren würde darin bestehen, die Investitionen der Aktionäre zu schützen. Mohammed bin Salam, so Slobodian, hätte „Neom“ denn auch als „erste kapitalistische Stadt der Welt“ bezeichnet (Slobodian, Seite 327).

Bestätigt wird die Sicht Slobodians vom deutschen Berater des saudischen Kronprinzen. Originalton Klaus Kleinfeld:

„Und dann dürfen wir hier alles ausprobieren, ohne dass wir erst auf eine bestehende Infrastruktur Rücksicht nehmen müssen. Auch neue Formen der Gesetzgebung: Wir haben die volle gesetzgeberi-sche Autorität!
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz hat uns aufgegeben: ‚Schreibt die Gesetze in der denkbar
Investoren-freundlichsten Art und Weise. Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe zweier großer
internationaler Anwaltskanzleien.“ (Deutschlandfunk)

„The Line“ ist allerdings nicht die erste Idee für eine am Reißbrett entworfene Öko-Megastadt, die darauf gerichtet ist, den Kapitalismus von allen Beschränkungen zu befreien. Bekanntlich lässt sich das nirgendwo sonst so leicht verwirklichen wie in einer beinharten Autokratie. Der Journalist Claas Gefroi ordnet das Projekt „Neom“ in eine seit Jahren ablaufende Entwicklung ein, die weltweit vorangetrieben werde – mit einer klaren Zielstellung. Neue Städte und Wirtschaftsregionen würden geplant, „die von privaten Kapitalgebern und Unternehmen finanziert, besessen und verwaltet werden und als möglichst autonome Gebiete nicht oder nur noch rudimentär dem Rechts- und Steuersystem des jeweiligen Landes unterliegen“. Auf Grundlage einer auf Ungleichheit und Eigentumsrechten fixierten Ideologie solle ein politisch-ökonomisches System etabliert werden, „das auf maximaler Ungleichheit basiert, jegliche soziale und finanzielle Absicherung der Besitzlosen durch den Staat unterbindet und generell jedwede staatliche Steuerung und Kontrolle ablehnt“. Im Kern, so Gefroi, gehe es um eine Umwandlung von Staatsgebieten in Privatterritorien: „Die Folgen einer solchen libertären Entwicklung wären fatal“. (Gefroi, Seite 46)

*„Neo“ im Kunstwort „Neom“ ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen und repräsentiert das Neue; die Endung „m“ bezieht sich auf das Arabische und steht für die Zukunft (mustaqbal).

Quellen:

Thoralf Cleven: „Megacity Neom: Gigantomanie im Wüstensand“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 5. Januar 2023

Anna Gauto: „Neom-Projekt für deutsche Firmen lukrativ – aber auch sauber?“, Handelsblatt (Online) vom 20. Februar 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/saudi-arabien-neom-projekt-fuer-deutsche-firmen-lukrativ-aber-auch-sauber-01/100014785.html 

Claas Gefroi: „Durch die Wüste“, Konkret, 7/2023, Seite 44-46

Dominik Hochwarth: „‚The Line‘ Saudi Arabien: Mehr als ein Märchen aus 1001 Nacht?“, ingenieur.de (VDI Verlag), 6. März 2024
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/bau/saudische-megacity-the-line-mehr-als-ein-maerchen-aus-1001-nacht/

Tom Porter: „Der saudische Kronprinz will eine milliardenschwere Smart City in der Wüste errichten: China soll dafür Überwachungstechnologie bereitstellen“, Business Insider, 24. Februar 2023
https://www.businessinsider.de/politik/welt/neom-der-saudische-kronprinz-plant-ueberwachte-smart-city/ 

Quinn Slobodian: „Kapitalismus ohne Demokratie“, Berlin, 2023

Deyan Sudjic: „Neom, die Wüstendystopie“, Merkur, April 2023, Seite 77-80

Marc Thörner: „Blut, Sand und Beton“, Deutschlandfunk/WDR (Erstsendung am 20. Februar 2024)
https://www.hoerspielundfeature.de/blut-sand-und-beton-100.html 

 

 

 

 

Krieg als Konjunkturprogramm

 Kapitalismus beruht auf Wachstum. Und kommt das Wirtschaftswachstum (aus welchen Gründen auch immer) ins Stocken, haben wir es über kurz oder lang mit einer Krise zu tun. Krisen gibt es seit dem frühen Kapitalismus – zunächst allerdings im überschaubaren Rahmen. Es gab damals beispielsweise noch genügend Regionen (sogar ganze Kontinente) mit vormoderner oder nicht vorhandener Wirtschaft, in die Unternehmen expandieren konnten, wenn die Wirtschaft ihres Staates ins Stocken geriet. Und es existierten noch reichlich ungenutzte technische Möglichkeiten für die Weiterentwicklung oder auch Neugründung von Industrien.

Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 war dann aber nicht nur besonders heftig. Sie hatte zudem ihre Hauptursache nicht in vorübergehender Störung des Wirtschaftswachstums (war also keine Durchsetzungskrise der Kapitallogik), sondern entstand im Gegenteil aus der verqueren Logik eben dieses Wirtschaftswachstums. Nach dem Ende einer gigantischen Konjunkturwelle – die wiederum aus dem damaligen Siegeszug fordistischer Massenproduktion resultierte – hatte die kapitalistisch strukturierte Industrieproduktion sich in einer Fülle nicht absetzbarer Waren selbst erstickt. Und es bedurfte weltweit massiver Interventionen der jeweiligen Staatsapparate, ihre Volkswirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

Diese Interventionen erfolgten freilich von den betroffenen Regierungen auf sehr unterschiedliche Weise. In einigen Staaten wurde mittels entsprechender Sozialgesetzgebung wieder Massenkonsum erzeugt – was dann die Wirtschaft erneut ankurbelte. Diese Methode war letztlich die Geburt des keynesianischen Wohlfahrtstaates. Im Deutschland des Reichskanzlers Adolf Hitler erfolgte das Konjunkturprogramm allerdings ganz anders – mittels kreditfinanzierter Hochrüstung, die die Leute wieder in Arbeit und Lohn bringen sollte und dies vorübergehend sogar tat. Voraussehbare Folge war dann allerdings die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – mit weltweit über 50 Millionen Toten.

Auf den Krieg folgte die Nachkriegskonjunktur, dann erneute Krisen, Hochrüstungsprogramme (es blieb glücklicherweise, jedenfalls in Europa, beim „Gleichgewicht des Schreckens“), schließlich dann der Siegeszug von Mikroelektronik und Netzkultur (aus dem dann wieder eine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen resultierte). Und nach dem Auslaufen dieser vorübergehenden Konjunkturwelle hatten wir von 2007 bis 2009 plötzlich die nächste Weltwirtschaftskrise. Die konnte im weltweiten Maßstab nur mittels einer gigantischen, nie wieder abtragbaren Staatsverschuldung bewältigt werden. Dass auf sie in vergleichsweise kurzer Zeit wieder die nächste Weltwirtschaftskrise folgen würde, war abzusehen. Und auch, dass diese Krise nicht mehr mittels einer simplen Kreditaufnahme bewältigt werden könne.

Damit haben wir es nun seit mehreren Jahren zu tun – inklusive verzweifelter Versuche diverser Wirtschaftsunternehmen, Staatsapparate und multistaatlicher Organisationen, eine neue Konjunkturwelle herbeizuzaubern.

Geht es derzeit in Deutschland etwa um einen besonders perfiden Versuch, konjunkturellen Aufschwung zu erzwingen – wieder einmal mittels kreditfinanzierter Hochrüstung? Es mag so scheinen. Dass solche Hochrüstungsprogramme nur ein Vorgriff auf dann unweigerlich folgende Wellen von Vernichtung und Raub sein können, scheint bei deutschen Eliten nie angekommen zu sein.

Beim derzeitigen Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine Spätfolge des Zerfalls der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Die Ukraine als industriell unterentwickeltes Gebiet gehörte – wie andere Regionen auch – zu den Verlierern dieses Zerfallsprozesses. Beim jetzigen Krieg geht es – abgesehen von allen Fragen der politischen Verfasstheit und des Völkerrechts – darum, ob die Ukraine als wirtschaftliches Anhängsel Russlands wieder ein Spielball russischer Oligarchen und Staatsunternehmen wird oder aber endgültig ein Spielball westlicher Großunternehmen bleibt. Ein größerer Teil der ukrainischen Agrarflächen und Industrieobjekte befindet sich jedenfalls bereits im Besitz westlicher Unternehmen. Und die westliche Rüstungsindustrie profitierte bisher mächtig vom Krieg – ebenso allerdings russische Rüstungsschmieden. Und keines der Unternehmen, die am Krieg verdienen, ist naturgemäß an einem Friedensschluss interessiert.

Es besteht mittlerweile die reale Gefahr, dass der bisher lokal begrenzte Konflikt in Richtung eines atomar geführten Weltkrieges eskaliert. Die Zahl der Opfer eines solchen Krieges ist schwer voraussehbar – sie dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der Opfer des letzten Weltkrieges weit übersteigen.

Deutsche Wirtschaftsunternehmen scheinen in einer solchen Situation aber vordergründig erst einmal weitere Expansionsmöglichkeiten zu wittern – und ihre Lobbyisten demzufolge entsprechend instruiert zu haben. Ein Beispiel: Anstatt ein Ende der Eskalation anzustreben, forderte in Deutschland kürzlich der Städte- und Gemeindebund ein Milliardenpaket zum Schutz der Bevölkerung vor einem möglichen Krieg aufzulegen. Dies hört sich zwar zunächst vernünftig an. Gemeint ist allerdings ein Bauprogramm – in erster Linie für Atombunker. Konkret forderte Hauptgeschäftsführer André Berghegger mehr Bunker in Deutschland. Von den 2000 während des Kalten Krieges errichteten öffentlichen Schutzräumen seien nur noch 600 vorhanden: „Es ist dringend notwendig, stillgelegte Bunker wieder in Betrieb zu nehmen“. Außerdem sollten neue, moderne Schutzräume gebaut und zusätzliche Sirenen installiert werden. Besonders die letzte Forderung dürfte bei denen, die noch den Zweiten Weltkrieg und die Hochzeiten des Kalten Krieges miterlebt haben, böse Erinnerungen aus Kindheit und Jugend wachrufen.

Dass im Fall eines atomar geführten Krieges solche „Schutzräume“ nur sehr bedingt – und dann auch nur für relativ kurze Zeit – Teile der Bevölkerung schützen können, wird derzeit in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Auch nicht, dass anstelle einer weiteren Eskalation Verhandlungen mit der Gegenseite vernünftig wären. In einem atomar geführten Krieg kann es jedenfalls keine Sieger geben – auch wenn danach überlebende Teile der Bevölkerung es schaffen, noch ein paar Monate in unterirdischen Bunkern auszuharren.

Gibt es in dieser Situation denn gar keinen Lichtblick? Doch. Ausgerechnet Papst Franziskus als weltweites Oberhaupt aller Katholiken kritisiert die Waffenindustrie als „Drahtzieher der Kriege“ und fordert zum wiederholten Mal ein „Nein zum Krieg“ auf allen Seiten. Und laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der Bundesbürger die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ab und ist nach wie vor für mehr diplomatische Bemühungen um einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen.

Was hat dies alles aber nun mit Wirtschaftskriminalität zu tun? Krieg bedeutet Raub und Zerstörung, ist also verbrecherisch. Und Geschäftemacherei mit dem Tod anderer ist dem Grunde nach kriminell.

Quelle:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staedte-und-gemeindebund-fordert-bau-neuer-bunker-a-37bdc35e-0b5b-4e6b-ae22-e6f050611818

 

René Benkos exklusiver Zugang zur Macht

Nach dem großen Crash des Signa-Konzerns ist der ehemalige Selfmade-Milliardär René Benko aus der Öffentlichkeit verschwunden. Anfragen von Journalisten zu seinem kollabierenden Immobilienimperium beantwortet er nicht. Die mediale Recherche aber geht unvermindert weiter, um vor dem Hintergrund der undurchsichtigen Konzernstruktur Licht in die fragwürdigen Finanzströme und die politischen Verbindungen Benkos zu bringen. Denn die Folgen der Signa-Pleite sind gravierend: von Jobverlust betroffene Beschäftigte, verlorene Staatshilfen, Bauruinen, Politikversagen (und ja, auch geprellte Großinvestoren).

Hamburgs Polit-Elite in der Mitverantwortung

Im Januar 2024 rutschte Hamburgs Prestigeobjekt Elbtower, als eines der höchsten Gebäude Deutschlands von einem Stararchitekten entworfen, in die Insolvenz. Heute symbolisiert die Bauruine sowohl den Niedergang der Signa-Gruppe als auch das herrschende autokratische Politikverständnis, das Spekulanten à la Benko den Weg zum Aufstieg ebnete. Denn gleich mehrere Erste Bürgermeister sorgten in der Hansestadt dafür, dass eine deutsche Projektgesellschaft des Signa-Konzerns den Zuschlag für das Bauvorhaben erhielt. Im Februar 2018 stellte der damalige Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) im Rahmen einer Pressekonferenz das Projekt der Öffentlichkeit vor. Offensichtlich wurde der Kaufvertrag über das Grundstück schon zwei Tage davor abgeschlossen; die Zustimmung der politischen Gremien der Stadt Hamburg erfolgte dagegen erst ein Jahr nach der Präsentation.

Ein ehemaliger Abgeordneter der hamburgischen Bürgerschaft (CDU) berichtete gegenüber der ARD, dass es sich um ein „absolutes Geheimverfahren“ gehandelt habe, um eine „große Mauschelei“, von der die Volksvertreter:innen nur durch Zufall erfahren hätten. Schon damals sei Signa ein „höchst problematischer Bewerber“ mit einem schlechten Ruf gewesen. 122 Millionen Euro sollte das Baugrundstück für Signa kosten, zwei andere Bieter hätten bis zu 13 Millionen Euro mehr geboten, wie sich später herausgestellt habe.

Benkos Kontakt zu Scholz hatte der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler und Signa-Lobbyist Alfred Gusenbauer hergestellt. Im März 2018 traf Benko dann Peter Tschentscher (SPD), den Nachfolger von Scholz als Erster Bürgermeister. Bereits zwei Tage danach wurde ein Beratervertrag zwischen Signa und der Agentur von Ole von Beust (CDU), dem ehemaligen Ersten Bürgermeister, abgeschlossen. Dessen Aufgabe bestand darin, Kontakte zur lokalen Politik und Verwaltung herzustellen und damit politische Zustimmung zu organisieren. Die Baugenehmigung, so eine ARD-Doku zum Fall Benko, sei dann unter Tschentscher in nicht einmal drei Monaten durchgewunken worden. Außerdem sei das Bauvolumen (Bruttogeschossfläche) nachträglich um 18 Prozent vergrößert worden, ohne dass sich der Kaufpreis erhöht hätte – nach Aussage des CDU-Abgeordneten ein völlig unübliches Verfahren im Baugeschäft und somit ein Geschenk an Benko.

 

Benko zieht Berliner Senat über den Tisch

 Mit diesen Worten beschrieb schon Mitte 2023 Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, einen Deal zwischen dem Senat der Hauptstadt und der Signa Holding. Im August 2020 schloss der damalige rot-rot-grüne Senat eine Absichtserklärung („Letter of Intent“) mit Signa als Eigentümerin des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof ab. „Arbeitsplätze gegen Baugenehmigungen von Großprojekten“ hieß die Devise. Nach Gennburg war das Versprechen der Signa-Gruppe, vier Galeria-Standorte zu erhalten, rechtlich allerdings nicht bindend, die milliardenschweren Baugenehmigungen in Berlin dagegen sehr wohl rechtswirksam (vgl. MieterEcho und ARD-Doku). Das ernüchternde Resultat: Vier Jahre später existieren zwei der vier Warenhaus-Filialen nicht mehr, zugesagte Millioneninvestitionen blieben zudem aus. Eine wichtige Rolle bei der gemeinsamen Absichtserklärung von Senat und Signa dürfte die Unternehmensagentur Joschka Fischer & Company gespielt haben. Als Benkos Lobbyist in Berlin sollte der Ex-Außenminister die Kontakte zu den Politiker:innen auf Bezirksebene und im Abgeordnetenhaus herstellen und vor allem bei den Grünen für ein besonders umstrittenes Bauvorhaben werben.

An der Grenze der Bezirke Neukölln und Kreuzberg wollte Signa vor einigen Jahren auf einer zentralen Liegenschaft ein altes Karstadt-Gebäude abreißen, dann für 500 Millionen Euro einen neuen Gebäudekomplex mit Kaufhaus, Hotel, Büros und Wohnungen errichten. Im Rahmen eines städtebaulichen „Werkstattverfahrens“ sollte frühzeitig eine breite Mitwirkungsmöglichkeit der Öffentlichkeit gewährleistet werden – so die offizielle Darstellung. Für die Präsidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, kam das einer letztlich von Signa über Jahre organisierten „gelenkten Beteiligung“ gleich. Die Bürger:innen dürften bei solchen Verfahren zwar ihre Meinungen kundtun, so die Architektin, aber danach passiere alles hinter verschlossenen Türen. Stadt und Investor würden entscheiden, welche Wünsche berücksichtigt würden. Und im Gegensatz zu einem normalen Planungswettbewerb erfahre niemand außerhalb, warum (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024). Berlins Lokalpolitikerin Katalin Gennburg hält diese Form der Bürgerbeteiligung für eine Farce. Sie würde formal durchgeführt und medial ausgeschlachtet, aber den Einwendungen der Bürger:innen kein Gewicht einräumen: „Das Verfahren von Signa war von Beginn an antidemokratisch und ist ohne Abstimmungen im Parlament gelaufen.“ (MieterEcho)

 

Staatshilfen perdu

Die enge politische Verbindung von Benko zur Politik zeigt sich auch bei der Gewährung öffentlicher Hilfen. Im Zuge der Coronakrise pumpte die Bundesregierung während der ersten beiden Insolvenzen von Galeria Karstadt Kaufhof über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) insgesamt  680 Millionen Euro in das Unternehmen – obwohl es sich bereits vor der Pandemie in einer wirtschaftlichen Schieflage befand und der WSF schon damals mit einer erneuten Insolvenz gerechnet hatte (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten). Nach Expertenmeinung handelte es sich dabei offensichtlich um einen Rechtsbruch, da Unternehmen nach  EU-Richtlinien nur unterstützt werden dürfen, wenn sie noch über ausreichend Eigenkapital verfügen: „Bei Galeria war das zu diesem Zeitpunkt bereits bei null.“ (ebd.) Das war kaum ein Problem für Benko, denn der verfügte offenbar auch über einen direkten Kontakt zum Ex-Finanzsenator Berlins, Ulrich Nußbaum, der als damaliger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium für die Staatshilfen an Galeria Karstadt Kaufhof zuständig war. Von den 680 Millionen an staatlichen Hilfen ist aber offenbar nur ein kleiner Teil ausreichend abgesichert worden, weshalb sie für die Steuerzahler weitgehend verloren sein dürften. 

Benko interessierte sich nur wenig für ein profitables langfristiges Handelsgeschäft, dagegen sehr für wertvolle Immobilien und spekulative Geschäfte. Nach der kompletten Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof im Jahr 2019 wurden der Warenhauskonzern und die Immobiliensparte unter dem Dach der Signa rechtlich voneinander getrennt. Damit müssen die Kaufhäuser Miete an Signa zahlen, und zwar extrem hohe. Und die trieben den Handelskonzern in den Ruin. Würden marktübliche Mieten gezahlt, seien die Warenhäuser durchaus profitabel, bestätigte jüngst der Galeria-Chef in einem Spiegel-Interview (sieben bis elf Prozent des Umsatzes, statt über 30 Prozent wie im Falle eines Kölner Galeria-Hauses).

Die überhöhten Mieten bliesen über Jahre die Immobilienwerte auf, so dass Benko Investoren, Banken und Ratingagenturen von seinem Geschäftsmodell überzeugen und immer wieder günstig an frisches Geld kommen konnte. Auch die Millionen an Staatshilfen (Steuergelder), als Stützung der Kaufhäuser gedacht, flossen direkt in die Kasse von Signa. Benko ließ sich also staatliche Gelder für das Handelsgeschäft zuschießen, trieb damit die Immobilienwerte an und schüttete zugleich auf dieser Basis bis 2021 jährlich hohe dreistellige Millionenbeträge als Dividenden an die Investoren aus.

 

Geld vom Insolvenzverwalter

Viel Geld fordern auch die mehr als 300 Gläubiger von der seit vergangenen November insolventen Signa Holding – insgesamt etwa 8,6 Milliarden Euro. Der Insolvenzverwalter erkennt derzeit davon jedoch nur knapp ein Prozent an: 80,3 Millionen. Die Süddeutsche Zeitung findet es bemerkenswert, dass einige von denen, die Millionensummen von der Signa Holding fordern, maßgeblich dazu beigetragen haben, die Holding in die Zahlungsunfähigkeit zu steuern. Ganz vorne mit dabei sei René Benko selbst. Er wolle gewissermaßen von sich selber Geld, denn die Holding gehöre ihm mehrheitlich.

„Allein die österreichische Familie Benko Privatstiftung fordert 75 Millionen Euro von der Holding. Weitere 57 Millionen Euro wollen Gesellschaften aus einem weiteren privaten Stiftungskonstrukt mit dem Namen von Laura Benko. Rechnet man die Forderungen aller Signa-Tochtergesellschaften zusammen, kommt man schnell auf eine Summe von mehr als 1,6 Milliarden Euro. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich dahinter beim ein oder anderen Fall auch der Name René Benko verbirgt. So viel, wie Benko von sich selber, will sonst niemand.“ (Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024)

 

Quellen:

„René Benko: Der Zocker und die Politik“, ARD-Doku (WDR und NDR), Erstausstrahlung 7. Februar 2024, ein Film von Ingolf Gritschneder und Georg Wellmann

https://www.ardmediathek.de/video/story/rene-benko-der-zocker-und-die-politik/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zdG9yeS8yMDI0LTAyLTA3XzIyLTUwLU1FWg

Kristina Gnirke/Alexander Kühn: „Wir trennen uns von Führungskräften“ (Interview mit Galeria-Chef Olivier van den Bossche und Insolvenzverwalter Stefan Denkhaus), Der Spiegel vom 3. Februar 2024, Seite 66-67

Lea Hampel: „Big in Berlin“, Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024

Michael Kläsgen/Uwe Ritzer/Meike Schreiber: „Benko will viel Geld von Benko“, Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024

„Klassenpolitik am Hermannplatz“, Interview mit Katalin Gennburg, MieterEcho, Juni 2023, Seite 12-13

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2023/me-single/article/klassenpolitik-am-hermannplatz/

Stephanie Schoen: „Signa-Pleite: Sind 660 Millionen Euro Steuergelder für Galeria Karstadt Kaufhof futsch?“, Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 28. Februar 2024

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/707608/signa-pleite-sind-680-millionen-euro-steuergelder-fuer-galeria-karstadt-kaufhof-futsch

Weitere informative Quellen:

„Der Elbtower in Hamburg: Desaster mit Ansage“, Handelsblatt-Crime (Podcast vom 11. Februar 2024)

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-elbtower-in-hamburg-desaster-mit-ansage/29648986.html

Gudrun Giese, „Benko hat Schäfchen im Trockenen“, junge Welt vom 29. Februar 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/470332.immobilienspekulation-benko-hat-schäfchen-im-trockenen.html

 

 

 

 

 

 

„Wir werden Honig haben“ – Bee-Washing als Form von Greenwashing

Satirische Sendungen im Fernsehen sind ein Refugium für kritische Geister. Ein Lichtblick in der allabendlichen Fernsehwüste aus immer mehr Krimis ist das jede Woche nach der Heute-show kommende ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann. Hier wird mit investigativen Mitteln gearbeitet, werden Schutzbehauptungen und Propagandaformeln enttarnt und wenig bekannte Tatsachen in einer lockeren und lustigen Form vermittelt, die sicherlich nicht nach jedermanns Geschmack ist, aber sich die Abneigung von Rechts redlich verdient hat.

Wer weiß denn schon, dass das in den Medien vielbeschworene Bienensterben eine Legende ist, beziehungsweise eine interessegeleitete Halbwahrheit? Nur zu gerne glauben wir sie, weil das in den letzten Jahrzehnten sich beschleunigende Insektensterben als Indikator für die Umweltzerstörung mittlerweile allseits bekannt ist. Die weltweit schwindende Biodiversität wird zu Recht als ebenso dramatisch und die Lebensgrundlagen der Menschheit bedrohend angesehen wie der Klimawandel.

In seiner Sendung vom 3. November 2023 stellte Böhmermann klar, dass die abnehmende Zahl von Bienenvölkern sich nur auf Wildbienen bezieht, während sich bei den Zuchtbienen eine gegenteilige Entwicklung zeigt. Hier ist sogar eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Honig ein begehrtes Nahrungs- und Genussmittel ist, sondern auch damit, dass es immer beliebter wird, sich eine Bienenzucht als Mittel zur Verbesserung des eigenen Images zuzulegen. Hier hat sich ein ganz neues Geschäftsmodell aufgetan: Der Verkauf und die Vermietung von Bienenstöcken an Firmen, die damit einer Auflage der EU nachkommen wollen, ihre „Nachhaltigkeit“ zu demonstrieren.

Ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür ist die Waffenschmiede Heckler und Koch. Böhmermann zitierte aus einem Artikel der Neuen Rottweiler Zeitung vom 27. August 2020, in dem unter dem Titel „Heckler und Koch: Von Waffen und Bienen“ über die jährliche Aktionärsversammlung des Unternehmens berichtet wird. Darin heißt es – etwas ausführlicher als in der Sendung gezeigt: „Bei der Produktion in Oberndorf achte man auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Dank sparsamerer Maschinen habe man den Energieverbrauch um 20 Prozent und den CO2 Ausstoß um 25 Prozent gesenkt. Geplant sei der Bau eines Blockheizkraftwerkes. Dienstwagen seien künftig nur noch Hybridfahrzeuge, Mitarbeiter könnten E-bikes leasen. Und weiter kündigte Koch einen ersten Schritt zur Konversion an: ‚Wir werden auf dem Betriebsgelände Bienenvölker ansiedeln‘, kündigte Koch an, ‚wir werden Honig haben.‘“

Gut gemeint oder objektiv zynisch? Jedenfalls könnten die Widersprüche und der Widersinn der herrschenden Produktionsweise kaum besser zusammengefasst werden: Auch bei der Herstellung von Menschenvernichtungsmitteln gilt es, nachhaltig zu sein und Ressourcen zu schonen. Dass die Gewinnerzielung dabei nicht zu kurz kommen soll, versteht sich von selbst. Und das alles wird mit dem sentimentalischen Versprechen garniert, dass man als ersten kleinen Schritt zur Rüstungskonversion Honig produzieren werde.

Ein zugegeben krasses Beispiel für das, was nach dem Vorbild des Begriffs Greenwashing „Bee-Washing“ genannt wird: Die Vorspiegelung eines menschen- und naturfreundlichen, also gebrauchswertorientierten Produzierens bei Aufrechterhaltung des Profitprinzips der Tauschwertproduktion. Die fleißigen Bienen eignen sich hervorragend dazu, einen „grünen Kapitalismus“ zu suggerieren.

Böhmermann stellte diesem „Nutztier“, das an dritter Stelle nach Schwein und Rind kommt, in seiner Sendung einen anerkannten Schädling gegenüber: den Borkenkäfer, der als „Feind Nummer eins“ unseren guten alten deutschen Wald durch rasante Vermehrung und übergroße Fresslust bedrohe. So die Legende. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wälder in Deutschland sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit schnell wachsenden Fichten aufgeforstet worden, die nicht mehr so resistent sind wie der traditionelle Mischwald. Es ging um Profitabilität, nicht um nachhaltiges Wachstum. Die Folgen sind nun massenhaft in den immer wärmeren Sommern durch Wassermangel und Hitzestress absterbende und von den heftiger werdenden Stürmen umgelegte Nadelhölzer. Die sind ein bevorzugtes Fressen für den Borkenkäfer. Der aber bereitet durch sein Tun das Terrain für andere Insekten – und Wildbienen! Auf lange Sicht würde er sogar zum Wiedererstehen eines den neuen klimatischen Bedingungen angepassteren Mischwaldes beitragen.

An dieser Stelle brachte Böhmermann am Beispiel von Biene und Borkenkäfer eine Erkenntnis auf den Punkt, die auch zum Verständnis anderer Formen der falschen und manipulativen Feindbestimmung und der Ablenkung von den wahren Ursachen der Misere dienen könnte: „Wir lieben die Honigbiene, weil wir sie ausbeuten können und hassen den Borkenkäfer, weil er uns die Ausbeutung des Waldes versaut. Es geht gar nicht um Borkenkäfer gegen Biene. Der wahre Kampf ist Mensch gegen Natur. Und raten Sie mal, wer den gewinnt. Kleiner Tipp: Nicht wir, nicht wir.“

Mehr an Aufklärung ist von einer Satire-Sendung kaum zu erwarten.

Zum Gedenken an Erich Schöndorf (1947 – 2023)

„Gesellschaften haben offenbar nicht nur die Verbrecher, die
sie verdienen, sondern auch eine ihnen adäquate Justiz. So
wird sich eine Autogesellschaft auch keine Richter erlauben,
die ihr das Liebste nehmen.“ Erich Schöndorf

Erich Schöndorf war nach seinem Studium der Rechtswissenschaft, das er mit einer Promotion bei Spiros Simitis abschloss, von 1977 bis 1996 Staatsanwalt in Frankfurt am Main. Die letzten zehn Jahre war er im Umweltdezernat tätig und vor allem mit dem „Holzschutzmittel-Verfahren“ befasst. Dabei ging es um die gesundheitlichen Folgen PCP- und lindanhaltiger Holzschutzmittel, die massenhaft vertrieben worden waren. Die Verurteilung zweier Manager des Herstellers Desowag, einer Tochterfirma des Bayer-Konzerns wegen Körperverletzung wurde im Nachhinein wieder aufgehoben. Das Unternehmen kam mit einer Geldspende für Forschungszwecke davon. Die Geschädigten gingen leer aus.

Nach dieser frustrierenden Erfahrung quittierte Schöndorf den Justizdienst. Unter dem Titel „Zermürbt und müde. Interne Querelen treiben einen Umweltstaatsanwalt aus dem Amt“ beschrieb Herbert Stelz in der ZEIT vom 6. September 1996 die Vorgänge um den Prozess und die Widerstände, mit denen sich Erich Schöndorf auseinandersetzen musste. Immerhin hatte er aber im Zusammenspiel mit Journalisten erreicht, dass der Fall bundesweit bekannt wurde und das Problembewusstsein für Umweltgifte gewachsen war. Desowag und andere Firmen mussten bei der Produktion von Holzschutzmitteln fortan auf gesundheitsschädliche Stoffe verzichten.

Das langwierige und nicht von Erfolg gekrönte Gerichtsverfahren arbeitete Schöndorf in seinem Buch „Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal“ auf. Es folgte „Strafjustiz auf Abwegen. Ein Staatsanwalt zieht Bilanz“. Dann wandte er sich als Autor eher literarischen Formen zu. Dem Thema Umweltverbrechen angemessen entstanden die Öko-Krimis „Feine Würze Dioxin“, „Das Projekt“ und „Terrorziel Wasser“, alle im Nomen-Verlag veröffentlicht. Zuletzt erschien das Hörbuch „Game over?“ im Verlag Libroletto.

1996 wurde Erich Schöndorf als Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht an die Fachhochschule Frankfurt am Main berufen. Viele Jahre war er aktiv im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit dem Schwerpunkt Klimaschutz. Als Mitglied bei Business Crime Control (BCC) war er seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift BIG Business Crime, seit 2002 Mitglied im Vorstand und von 2011 bis 2021 Vorsitzender des Vereins.

 

„Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“

Unter dem Titel „Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“ hat Schöndorf in BIG Nr. 4/2014 beschrieben, wie er Ende der 1990er Jahre an der Fachhochschule Frankfurt mit Hans See und dem von ihm zusammen mit anderen gegründeten Verein BCC in Kontakt kam und wie das seinen Blick auf Umweltdelikte veränderte: „Als reinrassiger ‚Öko‘ war ich ganz auf eine Verfolgung von Straftaten fixiert, die dem Schutz von Umweltgütern wie Wasser, Boden und Luft dienen sollte. Die wirtschaftliche Dimension dieser Verfahren hatte ich zunächst komplett ausgeblendet. Ich war in Umweltverbänden und Bürgerinitiativen zuhause und hatte mich im Kampf um die Startbahn West (des Frankfurter Flughafens) engagiert.“

Über den von ihm 12 Jahre lang als Staatsanwalt geführten Holzschutzmittel-Prozess schrieb er dementsprechend selbstkritisch: „Zahlreiche Häuslebauer und Heimwerker waren durch die Anwendung giftiger Lasuren krank geworden und ich hatte im Dschungel der Toxikologie mit ihren Grenzwertproblemen und biochemischen Wirkmechanismen den wirtschaftsrechtlichen und insbesondere den wirtschaftskriminellen Hintergrund des Verfahrens schlicht verkannt. Die Firma hatte nämlich ihre Giftchargen betrügerisch an den Mann gebracht, indem sie über die Gefährlichkeit ihrer Produkte nicht aufgeklärt hatte. Neben dem Umweltdelikt der Giftfreisetzung hatte ich es quasi unbemerkt auch noch mit einem Betrug zu tun.“

Dieser Betrug diente der Gewinnerzielung und Gewinnmaximierung, wie auch bei anderen derartigen Delikten. “Wer die Umwelt schädigt“, schrieb Schöndorf in seinem Artikel, „tut das in der Regel nicht aus Lust an der Zerstörung, am Kaputtmachen, sondern weil er damit Geld verdienen will. Der Unternehmer, der seine giftigen Abwässer in einen Fluss leitet, spart die Kosten für Aufbereitung und Reinigung. Der Entsorger, der den ihm anvertrauten Bauschutt in die Landschaft kippt, statt ihn ordnungsgemäß zu recyclen, spart ebenfalls die hohen Gebühren der Wiederverwertungsanlage. Und die Bäume am Amazonas fallen deswegen der Motorsäge zum Opfer, weil das Palisander- und Mahagoniholz in Amerika oder Europa reißenden Absatz findet und die gerodeten Flächen anschließend dem gewinnbringenden Sojaanbau dienstbar gemacht werden können.“

 

„Die Lügen der Experten“

Im Holzschutzmittel-Prozess hatte Erich Schöndorf als Staatsanwalt mit Sachverständigen zu tun, die ganz im Sinne des beklagten Unternehmens einen Zusammenhang zwischen den giftigen Inhaltsstoffen des Produkts und den Krankheitsbildern bei Anwendern nicht bestätigen konnten beziehungsweise leugneten. Diese Erfahrung hat er in seinem Essay „Die Lügen der Experten“ im SPIEGEL Nr. 23/1999 pointiert zur Sprache gebracht.

Auf die Ärzteschaft könnten die Betroffenen kaum hoffen, schrieb Schöndorf. In deren Studienplänen sei Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vorgekommen. Den „alltäglichen Chemikalienwahnsinn“ und seine Folgen für die Gesundheit hätten sie daher nicht auf dem Schirm. Aber „was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte“ breche nun auf.

Nach bitteren Erfahrungen mit der Schulmedizin hofften viele Betroffene auf die Justiz. „Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel.“ Es stelle sich die Frage, „warum die Justiz Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.“

Schöndorf referierte eine naheliegende Erklärung: „Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.

Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.“

Richter und Staatsanwälte dürften und müssten sich fremden Sachverstands bedienen, um die Sache, die verhandelt wird, in allen Einzelheiten zu verstehen, das Für und Wider abwägen zu können und zu einem Urteil zu kommen. Sie könnten also nach Belieben Gutachter aus Wissenschaft und Praxis bestellen. Und da liege das Problem, so Schöndorf.

„Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.

Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.

Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozesserfolg des Opfers zu vereiteln.

Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis.

Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.

Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.“

Um diesen Usancen ein Ende zu bereiten machte Erich Schöndorf einen Vorschlag: „Was wir brauchen ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.“

Was die Transparenz bei Sachverständigen angeht, hat sich inzwischen dank des Drucks der Öffentlichkeit einiges getan. Dennoch bleibt der SPIEGEL-Essay Erich Schöndorfs in vielem aktuell.

 

„Die Mühen der Ebene“

Im Dezember 2015 wurde in Paris von 197 Staaten ein Klimavertrag abgeschlossen, um die Erderwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. „Nach dem Gipfel kommen die Mühen der Ebene“, waren die Anmerkungen von Erich Schöndorf zu diesem Vertrag betitelt, die in BIG Nr. 1/2016 erschienen sind. Schöndorf schrieb: „Das Wunder von Paris. Da war vielleicht die Prophezeiung von Friedrich Hölderlin wahrgeworden, der da, wo Gefahr war, auch das Rettende wachsen sah. Oder die Welt hatte tatsächlich begriffen, dass es in Sachen Klimaschutz so um die 12 Uhr war. Schon einmal hatte ja die Weltgesellschaft in einer ähnlich prekären Situation in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen, als sie zur Rettung der lebensnotwendigen Ozonschicht im Montreal-Abkommen die FCKW verbot.“

In seinem Artikel stellte Schöndorf die Möglichkeiten zur Nutzung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien dar, um die CO2-Emissionen mittelfristig erheblich zu senken und so einen weiteren Temperaturanstieg zu verhindern. Da sei „vorsichtiger Optimismus“ angebracht. „In jedem Fall bedeutet Paris, dass die Staaten in der Falle ihrer Selbstverpflichtung sitzen. Auch wenn es keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionsregeln gibt: Wer sich jetzt drückt oder zu bluffen versucht, steht zu Recht am Pranger der vertragstreuen Staaten sowie der überall mächtiger werdenden NGOs und Umweltverbände.“

Schöndorf sah „in den Köpfen der Menschen eine Trendwende geschafft“. „Jetzt geht es in eine andere Richtung und dieser Richtungswechsel kann eine neue Zuversicht generieren, kann dem Engagement zur Klimarettung einen neuen Schub verleihen.“ Inzwischen wissen wir, dass die „Mühen der Ebene“ noch viel schwieriger zu bewältigen sind als gedacht.

Am Schluss seines Artikels proklamierte Schöndorf ein Widerstandsrecht, wenn beispielsweise der Ausstieg aus der Kohle torpediert werde: „Dann werden sich hoffentlich viele an Wackersdorf, Whyl und Brokdorf erinnern, wo die Umweltbewegung ihre großen Erfolge gefeiert hat, und werden Kohlekraftwerke besetzen und Tagebaue blockieren. Denn es gibt da ein Ziel, auf das sich alle Staaten der Welt am 12. Dezember 2015 geeinigt haben: Die Erde zu retten. Wenn der Zweck die Mittel heiligen kann, dann jetzt.“

Bei allem Ernst der Lage hat Erich Schöndorf sich immer einen Sinn für den künstlerischen „Gegenentwurf“ und für die Satire bewahrt. In seinem Westerwälder Heimatort Greifenstein, in dem Erwin Piscator geboren wurde, für dessen Denkmal dort er sich einsetzte, hat er mit Laiengruppen Theaterstücke aufgeführt. Und in BIG hat er hier und da satirische Texte veröffentlicht – „wo die Satire doch“, schrieb er, „wie alle Kabarettisten übereinstimmend sagen, die einzig richtige Antwort auf den Unfug der Welt darstellt“.

 

Weitere Infos:

DokZentrum ansTageslicht.de: Ein ehemaliger Staatsanwalt gegen einen großen Chemiekonzern namens BAYER AG. Auf dieser Webseite findet sich u.a. auch die Aufzeichnung eines Interviews mit Erich Schöndorf.

Udo Hörster: Der Staatsanwalt des Holzgifte-Prozesses zieht Bilanz. In: Stichwort BAYER Nr. 1/1999

Herbert Stelz: Zermürbt und müde, DIE ZEIT Nr. 37/1996

https://www.zeit.de/1996/37/Zermuerbt_und_muede

Herbert Stelz: Wie im Mittelalter, DIE ZEIT Nr. 47/1996

https://www.zeit.de/1996/47/Wie_im_Mittelalter

 

Couragiert gegen Finanzkriminalität. Behördenversagen und staatlichen Blockaden zum Trotz

In einem Essay stimmte jüngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, Missstände aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schützen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku über einen der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und würdigt das langjährige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frühen 1990er Jahren das betrügerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfälischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „Hätte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst für grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen für die größten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in Müchen wegen Bilanzfälschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch Firmengründer Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefälschten Aufträgen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjähriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffällig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der Rentabilität ging, zunächst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie längst konkursreif waren. Weder die Aufsichtsräte noch externe Wirtschaftsprüfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden Fällen setzten erst einzelne Whistleblower die Aufklärung über kriminelle Machenschaften in Gang, während staatliche Behörden, wie etwa die zuständigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprägte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem für die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter Leerverkäufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakuläre Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnäckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner Aufklärungsarbeit ebenfalls auf massive Widerstände stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurück: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als Weltmarktführer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefüllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrüge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklärt die Vorgänge: Erhielt die Balsam AG Aufträge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der Auftragsbestätigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefälscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden Phantasiebeträge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis überhöhte Kredite vergeben. Um diese zurückzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den Finanzmärkten im Rahmen ganz legaler Geschäfte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugeführt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es ständig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall für den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wäre wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfälische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der Grünen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lässt nicht locker

Der ebenfalls über die Vorgänge bei der Balsam AG informierte Gründer von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die Vorwürfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen für glaubwürdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld für den Bereich Wirtschaftskriminalität zuständig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nächsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hätte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage später der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fünf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner späteren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. Firmengründer Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt übrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – für „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden Münchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnäckig jegliche Verantwortung für das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhängt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfüllt, den flüchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt zu sehen bekommen.

Dass überhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private Wirtschaftsprüfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stützten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon früh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere Vorwürfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den Glücksspiel- und Pornosektor, Geldwäsche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft München und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschüchtern, einige Schlägertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da Leerverkäufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report über Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestätigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschüchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklärte Dan McCrum gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefälscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie für Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des Lügengebäudes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und Gesprächen mit Shortsellern basierten, führten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) Unterstützt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht über die Wirecard Bank AG befasst war. Fünf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 über ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-Vorstände Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes Gespräch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg geführt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. Für die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im Kreditgeschäft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an Aufklärung über kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetäre Interessen verfolgen oder über interne Missstände informierte Angestellte betrügerischer Firmen sich vielleicht erst spät zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefährlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, München, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen Westfälischen), 7. März 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wäre“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. März 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, München, 2021

 

 

 

 

 

Neues von Krause

Zum gewesenen ostdeutschen Politiker Günter Krause und seiner Karriere als Wirtschaftskrimineller wurde in der Ausgabe vom Februar 2018 in BIG Business Crime bereits ein längerer Beitrag veröffentlicht.

Zur Erinnerung: Der diplomierte und promovierte Ingenieur hatte zunächst in der späten DDR den Posten eines Kreissekretärs der Blockpartei CDU inne. Wie fast alle diese „Blockflöten“, deren Rolle sich in kritiklosem Abnicken von Vorgaben des „Bündnispartners“ SED erschöpfte, wechselte auch Krause im Herbst 1989 blitzschnell die Stichwortgeber und brachte es so in der allerletzten DDR-Regierung zum Staatssekretär. Zusammen mit dem bundesdeutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble unterzeichnete er damals den Einigungsvertrag. Beide zählten demzufolge nicht zu Unrecht als Hauptverantwortliche für die ungeheuren sozialen Verwerfungen während der sogenannten „Wiedervereinigung“ – zudem galten sie als Helfershelfer der Horden von Wirtschaftskriminellen, die ab dem 3. Oktober 1990 über die zumeist völlig ahnungslose ostdeutsche Bevölkerung herfielen.

Krause – nunmehriger CDU-Landesvorsitzende des nunmehrigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern – wurde dann wohl als Dankeschön für diese Unterschrift mit dem Posten eines Verkehrsministers der ersten gesamtdeutschen Regierung bedacht. Diesen musste er allerdings schon im Jahr 1993 – nach einer ganzen Reihe von Skandalen – wieder räumen, verlor dann auch sein Abgeordnetenmandat im Bundestag und zog sich dann ganz aus der Politik zurück. In den Folgejahren geriet er dafür regelmäßig wegen seiner Verwicklung in wirtschaftskriminelle Machenschaften in die Schlagzeilen der Presse und landete vor den Schranken diverser Gerichte.

Der neuerliche Skandal um Krauses kriminelle Machenschaften scheint allerdings eher von bescheidenem Umfang zu sein: Es geht um simplen Betrug. Krause hatte während eines Insolvenzverfahrens Einkünfte in Höhe von etwa 370.000 Euro verheimlicht – es waren wohl hauptsächlich Honorare für öffentliche Fernsehauftritte sowie Erlöse für eine Buchveröffentlichung. Die Einkünfte hatte er unter Nutzung der spanischen Firma seiner Frau versteckt, sie so dem Insolvenzverwalter und den Gläubigern vorenthalten.

Krause hat mittlerweile ein vollumfängliches Geständnis abgelegt und wird höchstwahrscheinlich mit einer Verurteilung auf Bewährung davonkommen.

Quellen:

Ex-Bundesverkehrsminister Krause wegen Betruges vor Gericht

https://www.berliner-zeitung.de/news/ex-bundesverkehrsminister-krause-wegen-betruges-vor-gericht-li.384837

Günther Krause legt Geständnis ab

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/guenther-krause-ex-bundesverkehrsminister-legt-in-bankrott-prozess-gestaendnis-ab-a-70cad694-a8ca-47e7-bec3-9fb9ad2be059

Erdoğans Wahlsieg

Der erneute Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei trotz desolater wirtschaftlicher Lage und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich nur erklären, wenn man den Charakter seines Regimes ins Auge fasst. Der investigative Autor Jürgen Roth, seinerzeit Mitherausgeber von BIG Business Crime, hat in seinem 2017 erschienenen letzten Buch: „Die Neuen Paten – Trump, Putin, Erdoğan, Orbán & Co. Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedrohen“ einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis geleistet. Er wandte sich dagegen, bloß von einem „neuen Autoritarismus“ zu reden, wie es heute üblich ist. Es handele sich vielmehr bei den „Neuen Paten“ um eine „gelungene Fusion von politischer und krimineller Macht“, die alle Sphären der Gesellschaft mit Korruption durchdringt, demokratische Kontrollen außer Kraft setzt und Opposition kriminalisiert – auch wenn noch mehr oder weniger „freie“ Wahlen bestehen.

Jürgen Roths Thesen dazu: „Die Neuen Paten haben den Staatsapparat nicht nur übernommen, vielmehr sind sie die Capo dei Capi des Staatsapparates geworden. Damit ihre Politik von der Gesellschaft akzeptiert wird, bedienen sie sich einer rassistischen, nationalistischen und autoritären Ideologie. Daher sind auch die Neuen Paten, wie die italienischen Mafien, eng mit rechtsextremen Bewegungen und Parteien verbunden… Beide Systeme, das der klassischen Mafien und das der Neuen Paten, regieren mit der Angst ihrer Untertanen und sind zutiefst undemokratisch. Beide zeichnen sich durch ein ihrem Wesen nach elitäres, antidemokratisches und dem Gleichheitsgrundsatz widersprechendes Grundmuster aus.“

Erdoğan spielte meisterhaft auf dem Klavier der Ängste und der gesellschaftlichen Spaltungen: Angst vor dem „Terror“ der kurdischen Minderheit – selbst wenn diese nur Mit- und Selbstbestimmung in einem föderal aufgebauten Staat fordert. Angst vor „globalistischen“ Drahtziehern, die die Türkei mit Modernismen wie LBGTI überfremden wollen. Das Muster ist bekannt.

Dass sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP dann in der Stichwahl darauf auch mit ähnlichen Mittel zu antworten versuchte – er versprach, die unliebsamen syrischen Flüchtlinge schnell aus dem Land zu werfen und nahm eine weitere rechte Partei mit ins Boot – hat ihm nichts genützt.

Dennoch: Erdoğan erhielt nur wenig mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Das zeigt, dass Widerstand gegen sein Regime nach wie vor vorhanden ist.

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen bekam das linksgrüne „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ immerhin 10 Prozent der Stimmen – vor allem von Kurdinnen und Kurden, weil deren unter einer Verbotsdrohung stehende Partei HDP dazu aufrief.

In seiner Wahlanalyse auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Murat Çakır auf, welche schweren Aufgaben vor der Opposition in der Türkei liegen: „Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP (Erdoğans Partei) und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.“ („Die Türkei hat gewählt“, 15. Mai 2023)

Quelle:

https://www.rosalux.de/news/id/50409/die-tuerkei-hat-gewaehlt

Eine Matinee zu Krieg und Frieden

Seit 2006 veranstaltet Business Crime Control zusammen mit der KunstGesellschaft in Frankfurt am Main Matineen zu politischen und kulturellen Themen. Inzwischen sind es an die 200 Veranstaltungen geworden. Nach einigen Wechseln des Ortes finden sie seit vielen Jahren monatlich einmal im Club Voltaire statt. Hier eine exemplarische Auswahl: „Rechts macht auf links. Die national-soziale Gefahr“ mit Prof. Dr. Klaus Dörre, 2018; „Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart“ mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, 2019; „Rechte Allianzen bedrohen die offene Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, 2020; „Patente töten“ mit Anne Jung von medico international, 2021; „Wasser ist Leben“ mit Prof. Dr.-Ing. Franz-Bernd Frechen, 2022; „Kulturelle Prägungen und Politik“ mit Prof. Dr. Dieter Kramer, 2022.

Am 26. Februar dieses Jahres war Nicole Deitelhoff, Professorin an der Frankfurter Universität und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Gast in der Matinee, mit dem Thema: „Putin und der Krieg. Kann es eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt geben?“ Moderiert wurde die Matinee, wie viele vorher, von der Journalistin Ulrike Holler. Das zahlreich erschienene Publikum im Club Voltaire erwartete von der Referentin, die es von Fernsehinterviews und Auftritten in Talkshows her kannte, Antworten auf drängende und bedrängende Fragen: Wie hat sich der Konflikt entwickelt? Hätte es Alternativen gegeben? Welche Interessen sind im Spiel? Wie soll es weitergehen mit dem Krieg in der Ukraine? Welche Chancen für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen gibt es? Wie könnte eine neue Friedensordnung in Europa erreicht werden?

Nicole Deitelhoff skizzierte zunächst ihre Position: Putin sei eindeutig der Aggressor, die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, bei der ihr auch mit Lieferung von Rüstungsgütern geholfen werden solle, solange kein Waffenstillstand möglich ist. Auch was die Vorgeschichte des Krieges betrifft sah sie – zunächst – keine weitere Mitverantwortung des Westens. Der Beitritt osteuropäischer Länder zur NATO sei schließlich durch Abmachungen mit Russland abgefedert worden: Keine ständige Stationierung westlicher Truppen in diesen Ländern; NATO-Russland-Rat als vertrauensbildende Maßnahme; bisher keine Aufnahme der Ukraine in das nordatlantische Bündnis trotz entsprechender Bestrebungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie in Teilen der Protestbewegung gegen den Krieg beobachtet werden könne, sei deshalb falsch und nicht angebracht.

Nach Fragen aus dem Publikum differenzierte die Friedens- und Konfliktforscherin allerdings ihre Aussagen in diesem Punkt: So habe die USA Russlands Sicherheitsinteressen verletzt, beispielsweise durch ihre Präsenz im Schwarzen Meer und ihre treibende Rolle im Jugoslawienkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion sei nicht das von Gorbatschow vorgeschlagene „gemeinsame Haus Europa“ angestrebt und verwirklicht worden. Ansätze dazu wie die im Kalten Krieg geschaffene OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, seien nicht weiter verfolgt und ausgebaut worden. Stattdessen habe es einen Rückfall in alte Strukturen gegeben.

In einem im letzten Jahr erschienenen Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik hatte Deitelhoff ihre Haltung dazu wie folgt dargelegt: „Trotz aller Rede von der Zeitenwende … sollte Vorsicht walten, wegen dieser Entwicklungen alle Erfahrungen und bisherigen Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung zu verwerfen.“ Es zeige sich gerade in der gegenwärtigen Situation, „dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“.

Auf die Frage, wie es denn im Ukrainekrieg weitergehe, antwortete Nicole Deitelhoff, dass gegenwärtig noch beide Seiten fest davon überzeugt seien, die andere militärisch in die Knie zwingen zu können. Sie glaube persönlich nicht daran, dass dies möglich ist. Die Siegespropaganda auf beiden Seiten sei ein Mittel der psychologischen Kriegsführung nach innen und außen. Gewaltkonflikte hätten eine hohe Eigendynamik, bei der auch Unwägbarkeiten, Unerwartetes und das Glück mitspielten.

Wie aber solle man unter diesen Umständen aus der destruktiven Gewaltspirale mit ihren grausamen Folgen und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Einsatz von Atomwaffen herauskommen? Es gehe darum, so Deitelhoff, „aus einem unteilbaren Konflikt eine Teilbarkeit zu machen“. Das bedeute, die bereits ständig laufenden Verhandlungen zu Einzelfragen wie dem Getreideexport aus der Ukraine oder dem Austausch von Gefangenen fortzusetzen und auszuweiten. International müsste sich unter Beteiligung der UNO eine Gruppe von Staaten zusammenfinden, die sich, wie Indien und China, bisher eher oder teilweise neutral zum Konflikt verhalten haben, um eine Vermittlungsebene zu schaffen als Basis für künftige Verhandlungen.

Nicole Deitelhoff gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild von einem Zitronenbaum, um den heftig gestritten wird. Die unproduktivste Lösung sei es, ihn in Stücke zu zerschneiden. Davon hat niemand wirklich etwas, denn dann wäre er tot. Die Teilung seiner Früchte sei sinnvoller, aber dazu brauche es Zeit und Geduld, um sie wachsen zu lassen.

Entsprechend Zeit werde eine Lösung im Ukrainekonflikt benötigen. Die Umrisse dazu beschrieb Deitelhoff ganz ähnlich so, wie sie sich schon einmal bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 abgezeichnet hatten, die dann abgebrochen wurden: Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO, mit Sicherheitsgarantien durch andere Länder. Sicherheitsgarantien müsse es auch für Russland geben. Rückzug der russischen Truppen und Aufhebung der Sanktionen. Zurückstellen aller territorialen Fragen und zivile UN-Verwaltung in den umstrittenen Gebieten für die nächsten 15 Jahre. Danach international organisierte und überwachte Referenden im Donbass und auf der Krim, um deren Status zu klären.

Bis dahin werde es eine andere Generation von Entscheidern in Russland und in der Ukraine geben, die zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts fähiger und bereiter sein würde als die jetzige. Was an dieser Stelle noch einmal besonders auffiel, war das Fehlen einer politisch-ökonomischen Analyse der Kriegsursachen und der Interessen am und im Krieg. Damit befand sich die Referentin aber im Einklang mit der Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Näheres dazu kann man dem sehr lesenswerten Dossier „Quo vadis Friedensforschung?“ entnehmen, das als Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2023 erschienen ist.

Für die Protestbewegungen gegen Krieg und Militarisierung zeigte Nicole Deitelhoff Sympathien. Sie teile durchaus deren Ziele. Die gegenwärtige Friedensbewegung befinde sich aber in dem Dilemma, dass die Forderung nach einem sofortigen Stopp der militärischen Hilfe für die Ukraine bedeuten würde, dass Russland siegt und gar kein Interesse mehr an Verhandlungen hat. Die unkonditionierte Lieferung von immer weiteren Waffen wiederum verlängere den Krieg und widerspräche somit erst einmal dem Ziel, Frieden zu schließen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser und anderen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und seine Folgen betreffen, führten in der Matinee nicht, wie so oft, zu gegenseitigen Vorwürfen mit negativen Etikettierungen. Die Diskussion blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend sachlich und solidarisch. Damit war, zumindest im Kleinen, für zwei Stunden schon einmal etwas an Friedensfähigkeit gewonnen.

Als Fazit und Aufforderung sei hier zitiert, was Nicole Deitelhoff an anderer Stelle geschrieben hat: „Ja, wir sind wieder zurück auf Null. Doch angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – die drängendste ist zweifellos die Abwendung der Klimakatastrophe –, können wir es uns schlicht nicht leisten, lange an diesem Nullpunkt stehen zu bleiben.“

 

Der Kampf um das fossile Geschäftsmodell. Eine Studie untersucht die Macht der Gaslobby

Die fossile Energiewirtschaft steht unter erheblichem Druck. Zum einen wird sie von denjenigen attackiert, die wirksamen Klimaschutz unter kapitalistischen Bedingungen nicht für möglich halten. Zum anderen drängen Stimmen in den Vordergrund, die den Kapitalismus eher als Lösung des Problems sehen denn als Zerstörer der planetarischen Lebensgrundlagen. Würden Investitionen in erneuerbare Energien gegenüber fossilen größere Profite versprechen, heißt es etwa im Wochenblatt Die Zeit, sei international ein Wettrennen um die Erneuerbaren zu erwarten – und damit eine rettende Klimaschutz-Dynamik auf Basis nachhaltiger Energieträger (vgl. Die Zeit vom 23. Februar 2023).

Es wundert also nicht, dass die Gaswirtschaft erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die eigene Existenz zu legitimieren. Mit Erfolg, denn ihr Lobbyismus zeigt offenbar durchschlagenden Erfolg, wie eine Mitte Februar veröffentlichte umfangreiche Studie des Vereins LobbyControl eindrücklich belegt. Auf Basis einer Auswertung der Daten des seit über einem Jahr bestehenden Lobbyregisters werden die Kanäle untersucht, über die die großen deutschen Gaskonzerne und ihre Lobbyverbände Einfluss auf die Politik nehmen. Dabei liegt ihr Fokus auf den einflussreichsten Schlüsselfiguren und deren Netzwerken. Insbesondere habe der massive Lobbyeinfluss dazu geführt, dass die „Erzählung“, fossiles Erdgas sei ein klimafreundlicher Energieträger und somit wichtiger Teil der Energiewende, von der Bundesregierung übernommen worden sei – auf Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Dieser Einfluss setze sich aktuell beim Aufbau der LNG-Infrastruktur fort.

LobbyControl beschreibt aber nicht nur bestehende Missstände, sondern beansprucht auch, die notwendigen politischen Veränderungen im Verhältnis von Politik und Gasindustrie in Form eines Forderungskatalogs aufzeigen zu können.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind im Folgenden zusammengefasst:

– Viele Treffen und privilegierte Zugänge

Nach weitgehender Stilllegung der „Russland-Netzwerke“ wirkt der Lobbyismus in der aktuellen Regierung fort. So trafen sich von Dezember 2021 bis September 2022 Vertreter:innen der großen Gaskonzerne im Schnitt einmal täglich mit Spitzenpolitiker:innen der Bundesregierung (mehr als 260 Mal). Wie es in der Studie heißt, sei das deutlich mehr als bei den Vorgängerregierungen. Mit Umweltverbänden oder anderen energiepolitischen Akteuren gab es dagegen nicht annähernd so viele Treffen. Die Lobbymacht der großen Konzerne wie Uniper, Wintershall DEA oder RWE wurde zudem durch energieintensive Unternehmen wie BASF unterstützt. Gemeinsam mit der Gasindustrie übten sie Druck auf die Politik aus, um auf genügend kostengünstiges Gas zugreifen zu können.
Die Gaskonzerne sind weiterhin äußerst aktiv, vor allem auch mit Blick auf das Projekt eines massiven Ausbaus der LNG-Infrastruktur, das große neue fossile Geschäftsfelder eröffnen soll.

Als besonders pikantes Detail sei auch genannt, dass die Deutsche Energie-Agentur (DENA) der Gasindustrie einen privilegierten Zugang in das Bundeswirtschaftsministerium anbietet. Bei der DENA handelt es sich um eine im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gegründete, von der Rechtsform her private, tatsächlich aber mehrheitlich bundeseigene GmbH. Ihre Aufgabe besteht darin, die Regierung in energiepolitischen Fragen zu beraten. Stattdessen aber, schreibt LobbyControl, fungiere sie als „Lobbykanal für Unternehmen“. Soll heißen: Die Regierung toleriert den Gaslobbyismus nicht nur, sondern fördert ihn sogar. Das Unternehmen sorgt dafür, dass im Rahmen verschiedener Austauschformate einseitig Wirtschaftsvertreter:innen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, während Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände weitgehend außen vor bleiben. Die DENA wird folgerichtig nicht nur vom Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch aus privaten Quellen finanziert (z.B. von den Energiefirmen Wintershall DEA, Eon oder Exxon Mobil).

Ein Zitat aus der Studie:
„Auf diese Weise entstand auch die Gasstrategie der Bundesregierung: Sie wurde weitgehend von der Industrie selbst formuliert und räumte Gas eine entsprechend große Rolle in der deutschen Energiepolitik ein. Auch unter Wirtschaftsminister Habeck wirken die gasfreundlichen Netzwerke und Strukturen rund um das Ministerium weiter – sei es durch gasfreundliches Personal im Ministerium, durch weiterhin aktive Lobbyverbände mit guten Zugängen ins Ministerium und weiterhin bestehende gasfreundliche Strukturen innerhalb der DENA. Gaskonzerne sind infolge der Energiekrise noch enger in die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sowie des Bundeskanzleramts eingebunden als zuvor.“ (Seite 7)

– Hohe Ausgaben

74 Unternehmen und zwölf Lobbyverbände der Gaswirtschaft, die sich im Lobbyregister finden lassen, gaben im Jahr 2021 zusammen rund 40 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit aus und beschäftigten dabei 426 Personen. Hinzuzurechnen sind weitere Millionensummen aus der gasverbrauchenden Industrie sowie die Lobbyausgaben von Gazprom und dessen Tochterkonzernen, die sich seinerzeit nicht ins Lobbyregister eingetragen hatten. Zum Vergleich: Die drei größten Umweltverbände, die sich für den Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas engagieren, verfügten in dieser Zeit insgesamt nur über 1,5 Millionen Euro für ihre Lobbyarbeit (Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und BUND). Laut Lobbyregister arbeiten lediglich zwischen 83 und 110 Lobbyisten für diese drei Organisationen.

– Enge personelle Verbindungen

LobbyControl spricht von mindestens 30 ehemaligen Politiker:innen, die als gut bezahlte Seitenwechsler für die Lobbyabteilungen der Gasindustrie arbeiten. Neben Gerhard Schröder, der dem „russischen Gas“ den Zugang zu wichtigen SPD-Minister:innen ebnete, handelt es sich zum Beispiel um Kerstin Andreae, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen nun die mächtige Lobbyorganisationen BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) leitet und über einen guten Draht ins grün geführte Wirtschaftsministerium verfügt. Aus dem christdemokratischen Spektrum fungiert der ehemalige CDU-Abgeordneter und parlamentarische Staatssekretär Friedbert Pflüger als Aufsichtsratsvorsitzender des Lobbyverbands Zukunft Gas.

Auch zwischen Wirtschaftsministerium und Gasbranche gebe es enge Verflechtungen, schreibt LobbyControl. Minister Habeck (Die Grünen) habe zwar nach Amtseintritt die Führungskräfte seines Hauses ausgewechselt, die Abteilung „Wasserstoff und Gas, Energieeffizienz in Industrie und Gewerbe“ werde aber auf Ebene der Unterabteilungs- und Referatsleitung noch immer mit Personen besetzt, „die über Jahre enge Verbindungen mit der Gasindustrie gepflegt haben“ (Seite 80).

– Die Forderungen von LobbyControl

Die Gaskonzerne drängen nachdrücklich auf den Erhalt ihres fossilen Geschäftsmodells. Soll ein Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas aber gelingen, so LobbyControl, müssten die Lobbynetzwerke zurückgedrängt werden. Zumindest sei „mehr Ausgewogenheit in der Beteiligung verschiedener Interessengruppen sowie mehr Transparenz über politische Entscheidungsprozesse“ (Seite 5) zu gewährleisten. Insbesondere, da sich seit Beginn des Ukraine-Krieges die Kontakte zwischen Gasindustrie und Politik intensiviert hätten. Zudem fordert LobbyControl eine sogenannte Lobby-Fußspur, „die Kontakte zwischen Spitzenpolitiker:innen und -beamten mit Lobbyakteuren offenlegt und sichtbar macht, welche Interessen von Unternehmen oder Verbänden in konkreten Gesetzgebungsprozessen Berücksichtigung gefunden haben und welche nicht“ (Seite 43). Weitere Forderungen lauten: Das Sponsoring sollte offengelegt und begrenzt, die bestehenden Regeln für Seitenwechsel aus der Politik in die Wirtschaft und in Lobbyjobs verschärft, Akteure mit Anliegen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, Soziales und Menschenrechte in gleichem Maße angehört werden. Außerdem sollen Lobbynetzwerke und -arbeit autoritärer Staaten deutlich stärker kritisch in den Blick genommen sowie die Macht von Konzernen über das Kartellrecht und weitere Regulierungsmaßnahmen eingeschränkt werden.

– Fazit

Bei der Vorstellung der Studie in Berlin verwies Co-Autorin Nina Katzemich darauf, dass sich die Gaslobby als Partner der erneuerbaren Energien inszeniere. Dabei werde bewusst vernachlässigt, dass Gas ein fossiler und eben kein nachhaltiger Energieträger sei (vgl. Berliner Zeitung vom 15. Februar 2023). Das Narrativ von Erdgas als vermeintlich saubere und klimafreundliche „Brückentechnologie“ habe sich erfolgreich durchgesetzt. Völlig zu Unrecht: Die letzten Bundesregierungen, heißt es schon zu Beginn der Studie, hätten es verpasst, rechtzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien einzuleiten. Die Folgen für die Gesellschaft seien verheerend: „Es drohen weitere erhebliche Klimaschäden, milliardenschwere Fehlinvestitionen zulasten der Steuerzahler:innen, enorme Preissteigerungen sowie möglicherweise sogar Versorgungsengpässe.“ (Seite 5)

Die vorliegende 108-seitige Studie von LobbyControl weist nach: Die Erdgaslobby ist so einflussreich wie eh und je. Die akribische Untersuchung des Transparenz-Vereins leistet aber das, was sie verspricht: Sie wirft ein erhellendes Licht auf die „Schattenpolitik“ der Giganten des Gasmarkts.Quellen:

„Pipelines in die Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland“, hrsg. von LobbyControl e.V. (Autorinnen: Dr. Christina Deckwirth und Nina Katzemich), Köln, Februar 2023

Jochen Bittner: „Der Weltuntergang fällt aus“, Die Zeit vom 16. Februar 2023

Christine Dankbar: „Neue Studie: LobbyControl warnt vor fortgesetztem Einfluss der Gasindustrie“, Berliner Zeitung (Online) vom 15. Februar 2023

Der Artikel ist der Beilage der Zeitschrift Stichwort Bayer, Ausgabe 2/2023 entnommen.

 

 

„Bürger, schützt Eure Banken!“

Im Caricatura Museum in Frankfurt am Main ist bis 19. März eine Ausstellung zur Geschichte der satirischen Zeitschrift „Pardon“ zu sehen, die von 1962 bis 1982 erschien. Einer der beiden Kuratoren der Ausstellung ist Gerhard Kromschröder, der als „Pardon“-Redakteur zusammen mit Nikolaus Jungwirth 1971 die satirische Initiative „Bürger, schützt Eure Banken!“ gründete. Prominente, die gebeten wurden, die Initiative zu unterstützen, fielen prompt auf sie herein, wie Alfred Dregger, der stramm rechte damalige Vorsitzende der CDU Hessen, sowie der damalige Chef des Bundeskriminalamts Horst Herold. Wir haben Gerhard Kromschröder im Rückblick auf diese Aktion ein paar Fragen gestellt.

Mit Ihrer vermeintlichen Bürgerinitiative war damals der Schutz vor Bankräubern gemeint, die man angeblich an verdächtigem Verhalten vor Banken erkennen sollte. Erscheint heute angesichts von Cum-Ex-Betrügereien und Geldwäsche auch mit Hilfe von Banken eine derartige satirische Aktion überhaupt noch denkbar, und wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Kromschröder: Aber immer! Die Leute sind ja viel leichtgläubiger als wir wahrhaben wollen. Und die Banken umgibt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch, trotz aller Skandale, eine Aura der Seriosität. Was sich im Moment abspielt, könnte man durchaus mit einer Satire verdeutlichen, die unserer damaligen Aktion ähnelt: Die Banken werden geschützt, diesmal von oben, trotz aller Betrügereien; sie werden gepampert, und ihre Schulden übernimmt die Allgemeinheit.

Am Schluss des damaligen Artikels in „Pardon“ zu Ihrer Aktion wurde der Brecht-Spruch zitiert: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Sind die Banken inzwischen nicht längst in gewisser Weise selber zu Räubern geworden?

Kromschröder: Natürlich, denn sie sind das, was sie schon immer waren: eher mafiöse Vereinigungen als selbstlose, dem Allgemeinwohl verpflichtete Verwahr- und Vermehrungsanstalten von ihnen anvertrautem Geld.

Könnte oder sollte man „Bürger, schützt Eure Banken!“ heute nicht zeitgemäß neu interpretieren, zum Beispiel als präventive Aufforderung, die Geldinstitute unter öffentliche, demokratische Kontrolle zu nehmen?

Kromschröder: Das ist längst überfällig. Es wird endlich Zeit, dass sich die Bankkunden nicht länger an der Nase herumführen und abmelken lassen, zum Beispiel durch hohe Gebühren und wenig Zinsen; es geht nicht an, dass die Banken weiter die Politik vor sich hertreiben und es so immer wieder schaffen, die Schäden, die sie verursachen, auf die Gesamtbevölkerung abzuwälzen. Statt „Bürger, schützt Eure Banken!“, wie bei uns vor 50 Jahren, könnte der Slogan heute dann vielleicht lauten: „Bürger, übernehmt Eure Banken!“

 

Gerhard Kromschröder hat als investigativer Journalist unter anderem Reportagen über Neonazis, Giftmüll-Skandale und zur Flick-Spendenaffäre gemacht. Mit Günter Wallraff zusammen entwickelte er die Methode der Undercover-Recherche. Berichte darüber veröffentlichte er unter dem Titel „Ich war einer von ihnen“ 1987 im Eichborn Verlag. Ab 1989 war Kromschröder dann Nahost-Korrespondent des Stern. Während des ersten Irak-Kriegs arbeitete er als einziger deutscher Journalist und Fotoreporter im bombardierten Bagdad. Zum zweiten Irak-Krieg erschien sein Buch „Bilder aus Bagdad – Mein Tagebuch“, in dem er seine Erfahrungen als Kriegsreporter beschrieb. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel mehrere Fotobände, bei denen sie sich auf die Lebensspuren verschiedener Dichter begaben, von Wilhelm Busch bis Arno Schmidt.

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untätige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klären, ob führende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre später, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag für den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die Geschäfte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurück – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon häufig für Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum größten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig übernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben für die beiden Bundesländer trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle Geschäfte zu Lasten der öffentlichen Hand einfädelten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich während der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die Vorgänge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafür sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das Düsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das Geschäftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor über sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den Geschäften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt hätten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten Steuerschäden belaufen sich ebenfalls auf hohe Millionenbeträge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurückhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker übt sich die Justiz tatsächlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit Gefängnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. Während aber bislang vier Täter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spätestens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurückzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wäre. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwändiges Verfahren handele, gäbe es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro müssen letztlich viele hochkomplexe Aktiengeschäfte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt für die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, für die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, Rückstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die Steuerrückforderungen übernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwärtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und Schlüsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwähnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 übernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frühere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklärt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von Grünen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der früheren WestLB aufklären.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche Leerverkaufsgeschäfte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen Wirtschaftsprüfer und in enger Kooperation mit den zuständigen Behörden würden alle in Frage kommenden Geschäftsvorgänge in dem Zeitraum untersucht. Nach der Ankündigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (…) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-Geschäften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurückgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdächtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch für die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit Milliardenbeträgen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der Prioritätenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

Aufsichtsräte wissen von nichts

Zu den auffallend zurückhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit Landräten, Oberbürgermeistern und Sparkassenvorständen, sind keinerlei Versuche bekannt, die Aufklärung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen Geschäften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und späterer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als Aufkäufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezügliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse über missbräuchliches Verhalten der Landesbank vorliegen würden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, ebenfalls recht dürftig: „Während meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht über das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschäftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „Wirtschaftsgrößen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. Verwaltungsräten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hätten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen Geschäfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (…) Die Cum-Ex-Geschäfte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen Geschäften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese räumen mit naiven Annahmen auf, der Staat würde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkämpften Geschäftsfeldern wie die privaten Banken und müssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die Führungskräfte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe Gehälter und Boni.

Die bizarre Geschäftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprünglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ Geschäftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr Auslandsgeschäft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen Gründen per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die Geschäftsführungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu führen. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten Geschäftspolitik noch nie einschränken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante Geschäfte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund geführt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und Verwaltungsräte, zur Aufklärung über die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lässt auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darüber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht für das „marktübliche“ internationale Investmentgeschäft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen Träger) fähig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hält ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne Täter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu früh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html

Das Ende von Demokratie und Staat – Die visionäre Heilsbotschaft des Tech-Milliardärs Peter Thiel

Im Mai 2022 beschrieb Die Zeit ganzseitig den Persönlichkeitskult um Elon Musk, Chef von Tesla, Twitter und dem Raumfahrtunternehmen SpaceX. Für den TV-bekannten Start-up-Investor Frank Thelen ist er „der größte Architekt der Menschheitsgeschichte“. Die Kombination von zur Schau gestelltem Machertum und dem Versprechen einer leuchtenden technologischen Zukunft lässt seine Anhängerschaft offenbar stetig wachsen: „Mit Tesla will er den Klimawandel stoppen, mit Twitter die Meinungsfreiheit retten, seine Lieblings-Kryptowährung Dogecoin soll nicht die Finanzelite reich machen, sondern ‚the people‘s crypto‘ sein“. Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonao bezeichnete ihn nicht weniger euphorisch als „Mythos der Freiheit“. Dies nicht gerade zufällig: Seit Monaten wird berichtet, dass Musk politisch nach rechts driftet, sich für Verschwörungserzählungen anfällig zeigt, für die Republikanische Partei und für den Ex-Präsidenten Trump wirbt. Ob die Übernahme und somit absolute Kontrolle über den Kurznachrichtendienst Twitter, einer wichtigen globalen Informationsplattform, sein Image auch bei vielen seiner bisherigen Fans beschädigen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

„Die Erziehung eines Libertären“

Ähnlich einflussreich wie die Kultfigur Musk, aber weitaus weniger im öffentlichen Rampenlicht stehend, ist der aus Frankfurt am Main stammende US-Milliardär Peter Thiel. Auch der Gründer des Online-Bezahldienstleisters PayPal und erste Großinvestor bei Facebook setzt auf die Republikaner: Im Jahr 2016 verhalf er mit gigantischen Summen Donald Trump zur Präsidentschaft. Seine provokanten politischen Überzeugungen legte der libertäre Vordenker der politischen Rechten in den USA in zahlreichen Vorträgen, Essays und Buchpublikationen dar. So zum Beispiel im Frühjahr 2009 in dem vielbeachteten Essay „The Education of a Libertarian“, den er auf Einladung der ultrakonservativen Denkfabrik Cato Institute vorlegte. Persönliche Freiheit sei das höchste Gut überhaupt, heißt es dort zu Beginn. Er stemme sich gegen Steuererhebungen, die „beschlagnahmenden“ Charakter hätten, lehne totalitäre Systeme ebenso ab wie die Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jeden Einzelnen: „For all these reasons, I still call myself ‚libertarian‘“.

Auch glaube er nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar seien. Das seit 1920 zu beobachtende gewaltige Anwachsen des Wohlfahrtsstaates und die Ausweitung des Frauenwahlrechts seien verantwortlich dafür, dass die Idee einer „capitalist democracy“ ein Widerspruch in sich sei. Soll heißen: Selbst eine moderate staatliche Politik des sozialen Ausgleichs und der demokratischen Mitsprache passe nicht zum Konzept der Freiheit, die mit dem Kapitalismus identisch ist. Dieser von ihm geäußerte Gedanke führe seiner Meinung nach zur eigentlichen Aufgabe der Libertären, einen Ausstieg aus der Politik in all ihren Formen zu finden. Er lege seinen Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien, die einen „neuen Raum für Freiheit“ schaffen könnten. Noch unentdeckte Gebiete müssten erschlossen werden, um neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszuprobieren. Als „technological frontiers“ nennt Thiel den Cyberspace, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere.

Wie Thiel weiter meint, habe er als Unternehmer und Investor seine Anstrengungen auf das Internet konzentriert. So wolle er eine von jeder Regierungskontrolle freie Weltwährung schaffen, um die Währungssouveränität der Staaten zu beenden. Konzerne wie Facebook hätten in den 2000er Jahren den Raum für einen neuen Umgang mit konfligierenden Interessen oder abweichenden Meinungen („new modes of dissent“) und neue Wege zur Errichtung von nicht an Nationalstaaten gebundene Gemeinschaften geschaffen. Der Weltraum bietet nach Thiel „eine grenzenlose Möglichkeit zur Flucht vor der Weltpolitik“. Die Raketentechnologie habe aber seit den 1960er Jahren nur wenige Fortschritte gemacht. Notwendig sei eine „Verdoppelung der Anstrengungen für die kommerzielle Raumfahrt“. Eine „libertäre Zukunft“ im All, wie sie bekannte Science-Fiction-Autoren beschrieben hätten, könne in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich werden. Zwischen Cyberspace und Weltall verortet Thiel als Ideologe uneingeschränkter technologischer Machbarkeit die Besiedelung der Ozeane. Diese solle einen dauerhaften Lebensraum ohne jeden Einfluss von Staaten schaffen.

Weltraum und Militär

Thiels Karriere ist eng mit diversen US-Techriesen und mit dem militärisch-industriellen Komplex verknüpft. Sein finanzielles Engagement bei Facebook führte zu einer jahrelangen Freundschaft mit dessen CEO Marc Zuckerberg. Der Bezahldienst Paypal entstand aus einem Zusammenschluss von Firmen Thiels und Elon Musks im Jahr 2000. Die 2004 gegründete Datenanalyse- und Softwarefirma Palantir brachte Thiel schließlich 2020 an die Börse. „Palantir (‚sehender Stein‘)“, schreibt Werner Rügemer, „ist einer der wichtigsten Softwarezulieferer für die US-Geheimdienste FBI, CIA und NSA, aber auch für das Department of Home Security, für (…) Air Force, Marines und die US-Katastrophenschutzbehörde.“ (Rügemer, Seite 145) Trotz seiner behaupteten staatskritischen Attitüde als Libertärer entwickelte Thiel das Unternehmen Palantir mit seinen weltweit knapp 3.000 Mitarbeiter*innen zu einem engen Partner von Regierungen, Behörden, dem Militär und der Großindustrie.

In das von seinem ehemaligen Paypal-Kollegen Elon Musk im Jahr 2002 gegründete Weltraumunternehmen SpaceX investierte Thiel die ersten 20 Millionen Dollar (vgl. Wagner, Seite 95). Selbstredend gilt Thiel als großer Fan von Musks Projekt, den Mars zu besiedeln – er ist an dessen Finanzierung beteiligt (vgl. n-tv). Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass er nun auch in ein oberbayerisches Start-up investiert, das unbemannte Flugobjekte an die Ukraine liefert. Zusammen mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A steigt Thiel mit 17,5 Millionen Dollar bei der Drohnenfirma Quantum Systems ein. Bisher ist es bei deutschen Startups eher verpönt, offen im Rüstungssektor tätig zu werden – Investoren aus der Venture Capital-Branche schließen Investments in Rüstungsprojekten in der Regel aus. Quantum aber lieferte im Frühjahr die ersten Überwachungsdrohnen zur Ausspähung russischer Truppen an die Ukraine. Weitere sollen folgen. Da die Grenzen zwischen Aufklärungs- und Waffensystemen in Zeiten der vernetzten Kriegsführung immer mehr verschwimmen, fallen offensichtlich – mit kräftiger Unterstützung des Neuinvestors Peter Thiel – bei deutschen Startups zunehmend bisher vorhandene Hemmungen, sich militärisch zu engagieren (vgl. Handelsblatt vom 21. Oktober 2022 und Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2022).

Weltmeer und Seestädte

Wie stellt sich Thiel aber nun eine Gesellschaft der Zukunft vor, in der Freiheit im Sinne des Libertarismus handlungsleitend sein soll? In jedem Fall in Form „freier Räume“ jenseits staatlicher Regulation. Zum Beispiel auf hoher See, denn das Meer und ferne unbewohnte Inseln gehören scheinbar niemanden, sind also eine Welt, die nach Thiel und Co. nur darauf wartet, angeeignet zu werden.

„In der Geschichte des Kolonialismus“, heißt es in einem FAZ-Artikel von Theresia Enzensberger, „war das unbeschriebene Blatt schon immer eine nützliche Illusion. Das Niemandsland war für die kolonisierenden Seefahrer eine ganz selbstverständliche Erweiterung ihres geschichtslosen, unbeanspruchten Meeresraums.“ Deren Erben im heutigen Silicon Valley sähen sich als Pioniere, als Entdecker von neuen Möglichkeiten und Lebenswelten. „Wenn Elon Musk die indonesische Insel Biak gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung durch eine Startrampe in ein ‚Space Island‘ verwandeln will; wenn Peter Thiel in das Seasteading Institute investiert, das vorhat, künstliche Inseln zu errichten; wenn der Rohstoffhändler Titus Gebel in Honduras freie Privatstädte entwickelt, bei denen die Regierung durch einen ‚Staatsdienstleister‘ ersetzt wird, dann tun sie das alle im Namen der Aufklärung – wie schon die Seefahrer Jahrhunderte vor ihnen.“

Das genannte Seasteading Institute wurde 2008 von Patri Friedman gegründet – dem Enkel Milton Friedmans, des Begründers der Chicagoer Schule, und Sohn des Anarcho-Kapitalisten David Friedman. Sein Projekt, eine „radikal libertäre“ Seestadt zu entwickeln, wurde von Thiel durch eine Spende von einer halben Millionen Dollar ins Rollen gebracht (vgl. Kemper, Seite 62f.). Laut Wikipedia-Eintrag bezeichnet „Seasteading“ (engl. Sea [Meer] und homesteading [Besiedlung, Inbesitznahme]) das Konzept, Stätten dauerhaften Wohn- und Lebensraums auf dem Meer zu schaffen, außerhalb der von nationalen Regierungen beanpruchten Gebiete. Die Washington Post beschrieb im Jahr 2011 Thiels Ideen näher:

„Thiel believes these islands may be important in ‚experimenting with new ideas for government‘, such as no welfare, no minimum wage, fewer weapons restrictions, and looser building codes.“ („Thiel glaubt, dass diese Inseln wichtig sein könnten, um mit ‚neuen Ideen für Regierungen zu experimentieren‘, wie z.B. keine Sozialhilfe, kein Mindestlohn, weniger Waffenbeschränkungen und lockerere Bauvorschriften.“ Vgl. Hinweis und Übersetzung im „ZDF-Magazin Royale“ vom 11. Februar 2022)

Am Ende seines Essays „The Education of a Libertarian“ (2009) wünscht Thiel übrigens Patri Friedman für sein außergewöhnliches Experiment nur das Beste.

Kryptowährung

Thiel ist auch ein langjähriger Fan von Digitalwährungen wie etwa Bitcoin. Er wird nicht müde, gegen alle Barrieren anzukämpfen, die seinem Ziel im Wege stehen, eine von staatlichen Banken unabhängige Währung zu schaffen. Mit seiner Firma PayPal wollte er damit nichts weniger als das Weltfinanzsystem aus den Angeln heben. Zunächst profitierte er aber persönlich davon. Über seinen Founders Fund investierte er 2017 rund 20 Millionen Dollar in die Kryptowährung; schon Anfang 2018 soll sein Investment laut Manager Magazin hunderte Millionen Dollar wert gewesen sein.

Auf der Konferenz „Bitcoin 2022“ im April 2022 in Miami Beach griff Thiel dann die drei bekannten Größen der US-Finanzindustrie frontal an: Warren Buffett, den JP Morgan-Chef Jamie Dimon und Blackrock-Chef Larry Fink. Er machte sie für die aktuelle Kursschwäche der Kryptowährung verantwortlich und beschimpfte sie als „Finanz-Gerontokraten“, die sich gegen die „revolutionäre Jugendbewegung“ rund um die Digitalwährung Bitcoin verschworen hätten. Er warf ihnen vor, den Trend zu nachhaltigen Investitionsansätzen gegen Bitcoin-Anlagen zu stützen (wegen des hohen Stromverbrauchs beim Mining achten Investoren offensichtlich mittlerweile auf mehr Energieeffizienz). Das Handelsblatt kommentierte dies am 8. April 2022 wie folgt:

„Thiels Verbalattacke einfach als unschöne Stimmungsmache abzutun wäre (…) zu einfach. Denn seine Rhetorik ist gefährlich. Thiel spricht von ‚Feindeslisten‘, Buffett nennt er den ‚Feind Nummer eins‘, Nachhaltigkeitsansätze seien eine ‚Hassfabrik‘, die er mit der Kommunistischen Partei Chinas gleichsetzt. Sinngemäß drückt er damit aus: Bitcoin bedeutet Freiheit, alles andere ist Diktatur. (…) Um diesen Standpunkt zu legitimieren, inszeniert sich der 54-Jährige, ironischerweise je nach Betrachtung selbst schon ein alter weißer Mann, als Interessenvertreter einer Jugendbewegung. Doch erstens besteht gerade in der jungen Generation ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt. Während Thiel den Staat am liebsten abschaffen würde, befürworten gerade viele junge Menschen Einschränkungen zugunsten größerer Nachhaltigkeit.“

Thiels Jugendkult passt übrigens zu einzelnen von ihm geförderten Forschungsprojekten, die das Ziel verfolgen, den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten. Beispielsweise steckt er Geld in die Kryonik, einer Technologie, die es ermöglichen soll, Menschen nach ihrem Ableben einzufrieren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutauen. Thiel erklärte bereits 2012, der Tod sei ein Problem, das sich lösen ließe. Laut Medienberichten wollte er an umstrittenen klinischen Tests teilnehmen, bei denen sich Erwachsene das Blut jüngerer Menschen spritzen lassen, um selbst wieder jugendlich frisch zu werden – in den USA als „Vampir-Therapie“ bekannt. Ende Oktober 2022 boten Internetportale dazu eine passende Meldung: Elon Musk hatte eine Reihe von Prominenten aus der globalen Tech-Szene und einzelne Hollywood-Stars zu einer Halloween-Party auf ein rumänisches „Dracula-Schloss“ eingeladen. Auch Peter Thiel stand auf der Gästeliste. Ein Sinn für skurrilen Humor ist den Tech-Milliardären kaum abzusprechen.

Königsmacher der neuen Rechten

Thiel hat allerdings bei öffentlichen Auftritten bestritten, ein Vampir zu sein. Das Manager Magazin hält in seiner Oktoberausgabe 2022 eine weitere Metapher für ihn bereit. Nach Auffassung des Blatts schürt Thiel schon lange Umsturzfantasien und greift als „Dark Lord“ nicht weniger als nach der politischen und gesellschaftlichen Macht in den USA. Sein Selbstverständnis zeigt eine mehrtägige Konferenz, zu der seine Capital-Venture-Firma Founders Fund Anfang 2022 in ein luxuriöses Hotel in Miami Beach einlud. Die „wichtigsten Unruhestifter unserer Kultur“ (unter anderem Elon Musk) versammelten sich dort unter dem Motto „A Conference for Thoughtcrime“. Die Teilnehmer*innen verstanden sich offenbar als Ketzer und Nonkonformisten, die „‚von anderen Konferenzen verbannt sind‘, wie es in der Einladung hieß. (…) Die Besucher sollten sich mit Widerspruch und unpopulären Ideen beschäftigen, wesentlich für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.“

Das Manager Magazin ernannte Peter Thiel als „Megaspender“ der Republikanischen Partei zum „Königsmacher der radikalen Rechten“. Denn mit seinen Millionen wolle er den Machtwechsel im US-Senat herbeiführen – und unterstützte bei den US-Zwischenwahlen im November zwei Trump-Anhänger und politische Newcomer, die selbst aus der Venture-Capitalist-Branche kommen: J.D. Vance (Ohio) und Blake Masters (Arizona). „Sie überbieten sich mit kruden Thesen von rassistischen Anspielungen, Verschwörungstheorien und Attacken auf die ‚woke culture‘, die Bewegung gegen Diskriminierung.“ Thiel selbst ist seit 2016 Großspender der Republikaner und gilt seitdem als Vertrauter und Berater von Ex-Präsident Trump. Dies ist ungewöhnlich, weil es auch in den USA offenbar eher selten ist, dass sich das „Wagniskapital“ direkt parteipolitisch einmischt. Anders bei Thiel: „‚Die Politik hat immer mehr Raum bei ihm eingenommen. Peter ist superpolitisch, und das schon seit fünf, sechs Jahren‘“. So zitierte das Handelsblatt jedenfalls am 8. Februar 2022 eine ihm nahestehende Person. Thiel, im gesellschaftspolitisch eher liberal geprägt Silicon Valley als Außenseiter geltend, versucht die Republikaner politisch weiter nach rechts zu verschieben, in dem er systematisch als Netzwerker agiert. Der amerikanische Universitätsprofessor Moira Weigel erklärte Mitte des Jahres gegenüber dem britischen Guardian, dass Thiel selbst aber gar nicht entscheidend sei: „What matters about him is whom he connects.“ Thiel stelle die Kontakte und Verbindungen her zwischen den „most rightwing politicians in recent US-history“.

Thiel möchte aber offensichtlich auch seine Kontakte nach Europa intensivieren. So heuerte Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang 2022 bei der Investmentfirma Thiel Capital als „Global Strategist“ an. Vor allem die guten Kontakte des ehemaligen ÖVP-Politikers zu Autokraten im osteuropäischen Raum und zur EU könnten Thiel bei der Entwicklung seines rechten Netzwerks von Nutzen sein. Kurz war zuvor wegen Korruptionsvorwürfen als Kanzler zurückgetreten und hatte alle politischen Ämter niedergelegt.

Herrschaft der Monopole

Der vorgeblich staats- und politikferne Tech-Milliardär scheut also nicht vor einer engen Kooperation mit einflussreichen und die freie Marktwirtschaft verherrlichenden (Ex-)Politikern zurück. Die suchen umgekehrt seine Nähe – ungeachtet der von Thiel provokant vertretenen Auffassung, Kapitalismus und Wettbewerb seien für ihn unvereinbar. „Für weite Teile der Allgemeinheit“, schreibt sein Biograf Thomas Rappold, „gilt der Grundsatz, dass Kapitalismus und Wettbewerb Synonyme sind. Tatsächlich sind sie für Thiel aber Gegensätze.“ (Rappold, Seite 37) Aufsehen erregte Thiel immer dann, wenn er öffentlich feststellte, dass er das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für innovations- und profithemmend halte und deshalb die Herrschaft kapitalistischer Monopolunternehmen befürworte. Gründer sollten einen Monopolstatus anstreben, das heißt eine einzigartige Firma aufbauen und sich stark von Wettbewerbern differenzieren, um nicht in eine Wettbewerbssituation zu geraten. Marktführer der Digitalwirtschaft, wie Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, seien als Garanten des technologischen Fortschritts ein Segen für die Entwicklung der Menschheit (vgl. auch Wagner, Seite 68). Zwischen Politik und Technologie bestehe deshalb ein Wettkampf auf Leben und Tod – so schrieb er es in seinem im Jahre 2009 erschienenen Essay.

Steuerparadies

Recht erfolgreich kämpft Thiel gegen den Staat aber auch in eigener Sache. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle für Staatsapparate. Auf große Teile seines Vermögens, das der Bloomberg Billionaires Index am 10. November 2022 auf 7,14 Milliarden US-Dollar taxiert, zahlt Thiel aber seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Steuern. Eine Grauzone des US-Steuerrechts ermöglicht es ihm, in einem Rentenfonds Milliarden Dollar steuerfrei zur Seite zu schaffen. „Thiel verteidigt seine persönliche Steueroase inmitten der USA mit allem, was er hat. Dass sie unangetastet bleibt, ist unter republikanischer Regierung deutlich wahrscheinlicher.“ (Manager Magazin, Seite 116) Offenbar wird der großzügige Sponsor der amerikanischen Rechten von privaten Verlustängsten geplagt.

Ängstlicher Visionär

Seine technokratischen Allmachtsfantasien und erfolgreichen Investitionsentscheidungen sowie sein politisches „Networking“ haben den selbsternannten „Contrarian“ (Querdenker, Nonkonformist) für viele zu einer ähnlichen Lichtgestalt wie Elon Musk gemacht. So schreibt der Thiel-Biograf Rappold, selbst Internetunternehmer und Investor: „Die Gabe, Dinge in hellseherische Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umszusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt.“ (Rappold, Seite 107)

Aber der Visionär trifft auch auf Gegner. Zum Beispiel in Neuseeland, das sich Thiel als Rückzugsort für apokalyptische Zeiten sozialen, politischen oder ökologischen Zerfalls ausgesucht hat (vgl. The Guardian vom 18. August 2022). Im Jahr 2011 sicherte sich der US-Amerikaner, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, einen neuseeländischen Pass, obwohl er sich gerade erst zwölf Tage im Land aufgehalten hatte. Um eine Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Bewerber*innen üblicherweise mindestens 1.350 Tage in fünf Jahren in dem Staat gelebt haben. Aber für den erfolgreichen Unternehmer drückten die neuseeländischen Behörden offenbar beide Augen zu. Die wohlwollende Entscheidung wurde 2017 bekannt – erwies sich dann aber in der Öffentlichkeit als höchst umstritten.

„Thiel“, schreibt Rappold, „reiht sich damit ein in ein Silicon-Valley-Phänomen: Obschon die Vordenker für eine neue Welt gerne viel Optimismus in der Öffentlichkeit versprühen, wenn sie ihre Innovationen als gesellschaftliche Durchbrüche messiasartig ihrer weltweit treu ergebenen Fangemeinde präsentieren, sorgen sich immer mehr wohlhabende Silicon-Valley-Größen um ihre eigene Zukunft. Während Thiel sich einen Zufluchtsort im malerischen Neuseeland ausgesucht hat, kaufen sich andere in luxuriöse Bunkeranlagen ein, horten Treibstoff und Nahrungsmittel. (…) Vielen gemein ist eine geradezu dystopische Sicht auf die Welt. Wer viel hat, kann eben auch viel verlieren.“ (Rappold, Seite 293)

Quellen

Bücher:

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Münster, 2022

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir. Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert, München, 2017

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln, 2015

Artikel:

Heike Buchter et al.: „Elon Musk sein“, Die Zeit vom 25. Mai 2022

Diana Dittmer: „Der Mann, der Trump wieder an die Macht bringen will“, n-tv, 12. Mai 2022
https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Milliardaer-Peter-Thiel-Der-Mann-der-Trumps-Truppen-in-Stellung-bringt-article23116635.html

Theresia Enzenberger: „Die Möglichkeiten einer Insel“, FAZ (Online) vom 19. September 2022
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/privatstaaten-von-techmilliardaeren-die-moeglichkeiten-einer-insel-18385728.html

Elizabeth Flock: „Peter Thiel, founder of Paypal, invests $1.24 million to create floating micro-countries“, The Washington Post vom 17. August 2011
https://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/peter-thiel-founder-of-paypal-invests-124-million-to-create-floating-micro-countries/2011/08/17/gIQA88AhLJ_blog.html

Thomas Fromm: „Peter Thiel investiert in Quantum Systems aus Gilching “, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/peter-thiel-drohnen-ukraine-quantum-systems-1.5676733

Edward Helmore, „‚Don’ of a new era: the rise of Peter Thiel as a US rightwing power player“, The Guardian vom 30. Mai 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/may/30/peter-thiel-republican-midterms-trump-paypal-mafia

Felix Holtermann et al.: Peter Thiel im Wahlkampf: Die Wagniskapitalgeber greifen an“, Handelbslatt (Online) vom 8. Februar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/us-zwischenwahlen-peter-thiel-im-wahlkampf-die-wagniskapitalgeber-greifen-an/28049440.html

Larissa Holzki: „Quantum Systems aus München erhält Thiel-Invest“, Handelsblatt (Online) vom 21. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/drohnen-hersteller-quantum-systems-aus-muenchen-erhaelt-thiel-invest/28748324.html

Christina Kyriasoglou: „Dark Lord“, Manager Magazin, Oktober 2022, Seite 110-116

Tess McClure: „Billionaire Peter Thiel refused consent for sprawling lodge in New Zealand“, The Guardian vom 18. August 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/18/peter-thiel-refused-consent-for-sprawling-lodge-in-new-zealand-local-council

Mareike Müller: „Peter Thiel erzählt Unsinn über den Bitcoin – und rückt immer weiter nach rechts“, Handelsblatt (Online) vom 8. April 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-peter-thiel-erzaehlt-unsinn-ueber-den-bitcoin-und-rueckt-immer-weiter-nach-rechts/28239920.html

Peter Thiel: „The Education of a Libertarian“, Cato Unbound: A Journal of Debate, 13. April 2009
https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/